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Die „Madonna von Dresden“ – zum 500. Todestag von Raffael

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Die Sixtinische Madonna kam am 1. März 1754 in Dresden an. Der Erwerb von Raffaels Meisterwerk war das Ergebnis langer Verhandlungen, die August III. von Sachsen zwei Jahre lang beschäftigt hatten. Vermittler mit den Mönchen der Abtei San Sisto in Piacenza war der Abt Giambattista Bianconi, einer der italienischen Ratgeber des Kurfürsten bei seinen Käufen. Er war Teil einer kleinen Gruppe italienischer Gelehrter und Wissenschaftler, die zwischen Dresden und Italien tätig waren. Dazu gehörten Giovanni Lodovico, Hofarzt und Antiquitätenliebhaber, einige berühmte Venezianer wie Pietro Guarienti, Inspektor der Dresdner Gemäldegalerie, und der Schriftsteller Francesco Algarotti als Berater des Fürsten. Auch Giacomo Casanova lebte einige Zeit lang hier, und natürlich der 1746 durch den Kurfürsten berufene Maler Bernardo Bellotto.

Marielene Putscher schreibt in ihrem Werk Raphaels Sixtinische Madonna: »In Italien vergessen, in der übrigen Welt unbekannt geblieben, beginnt das Gemälde erst mit dem Verkauf nach Dresden eine immer stärkere Wirkung auszustrahlen. Ein weiteres Jahrhundert später ist es das berühmteste Gemälde der Welt«.
Der erste, der sich für das Bild interessierte, war Johann Joachim Winckelmann in seinem 1755 erschienenen Werk von nur wenigen Seiten, das für die Kunstgeschichte von grundlegender Bedeutung wurde: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Dabei fügte er die Madonna in den klassischen Kanon ein und unterstrich dabei, dass ihre stille Größe auf die Schönheit der Werke der Antike verweist. Er erkannte in ihr eine Begegnung zwischen der christlichen und der heidnischen Bildvorstellung.
Im Jahr 1776 näherte sich der junge Johann Wolfgang Goethe dem Gemälde und widmete ihm eine von vielen Fragen, indem er einen Sinn hinter dem Profil der Mutter suchte: »Und ist Mutterliebe in ihren Abschattungen nicht eine ergiebige Quelle für Dichter und Maler, in allen Zeiten?« Gottfried Herder wurde durch Goethes Schrift zu einer aufschlussreichen Betrachtung über den Charakter der Sixtinischen Madonna inspiriert, ausdrücklich über die »Gewandtheit« und die »christliche Unbefangenheit«, die nur sie allein besitzt. In einem seiner Gedichte kann man lesen: »Erschien o Raphael, Dir auch das Bild / der Göttin als die heilige Idee / Dir in der Dürftigkeit der Erdenschöne/ vorschwebete?«
Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Sixtinische Madonna das berühmteste Gemälde im deutschsprachigen Raum: Zitiert hatte es Friedrich Schiller in seinem Drama Die Braut von Messina, Novalis hatte in Prosa und in Versen über das Bild geschrieben, sowie die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, zusammen mit Caroline, der Frau des letzteren, in den Zeitschriften »Athenaeum« und »Europa«. Die Schriftsteller der Frühromantik sahen den Ursprung der Sixtinischen Madonna wie einen Gründungsmythos. Und es war die Erzählung Raffaels Erscheinung von Wilhelm Heinrich Wackenroder, die das Hauptthema des Traums lieferte, der später von Johann Ludwig Tieck aufgenommen wurde: Die Erscheinung der Jungfrau in einem Traum des Malers, der diesen Eindruck dann in dem Bild der Madonna di San Sisto darstellte.
Im 19. Jahrhundert sahen die Philosophen in der Darstellung des Gemäldes entweder das Ideal oder das Menschliche, oder beide „in Einklang gebracht“, wie es Hegel tut. Schopenhauer widmet dem Gemälde ein Sonett, Nietzsche versucht, es aus der romantischen Tradition zu erlösen, und Freud sieht in der dargestellten Madonna ein faszinierendes menschliches Wesen dargestellt.
Inzwischen hatte das Ölgemälde, das der „göttliche“ Künstler nach dem himmlischen Traumbild gefertigt hatte, die russischen Intellektuellen begeistert. Als man durch die Erzählung von Raffaels Erscheinung die Analogien mit den Merkmalen orthodoxer Ikonen erkannte, wurde Russland die Heimat einer wahren religiösen Verehrung für die Sixtina. In den 1920er Jahren sah der Mönch und Philosoph Pawel Florenski in dem Bild eine spezifische Darstellungsweise, die dem Sehsinn bei jedem Blick einen neuen Eindruck verschafft, wie es beim Gold der orthodoxen Ikonen geschieht.
Als Florenski über die Sixtinische Madonna meditierte, war diese längst in das öffentliche Bewusstsein getreten. Zuerst hatte Nikolai Karamsin zu Ende des 18. Jahrhunderts über sie geschrieben, und bereits in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts folgten Zukowski, Puschkin, Lermontow und Turgenjew. Alexander Herzen, der wichtigste Vertreter des literarischen Realismus, erkannte eine »traurige und großartige Seele«, die sich der christlichen Hierarchie entgegenstellt, da sie sich niemals von ihrer tiefen menschlichen Natur trennen kann. In wenigen Sätzen ließ Fjodor Dostojewski die zentralen Figuren in Schuld und Sühne, Der Jüngling und die Dämonen mit der Madonna in einen Dialog treten.

Auch die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts kommentieren die Sixtinische Madonna. Der Raum der kubistischen Gemälde erinnert an den Himmel der Sixtina: ein fragmentierter Ort, der nach außen „explodiert“, wie Ernst Bloch 1919 anmerkte. Und wir können auch an das zerschnittene, unzusammenhängende Bild in der Collage von Kurt Schwitters (1921) denken, oder an die Neuinterpretation als Urbild der Mutter, die Picasso in seiner düsteren Blauen Periode schafft. Und an die strahlenden, kitschigen Madonnen von Dalì. Die wichtigste Eigentümlichkeit ist jedoch der außerordentliche Erfolg dieses Bildes, der sich von Mitteleuropa nach Russland und an die Atlantikküste ausbreitete, und dann auch die USA erfasste. Andy Warhol, der Prophet der Pop-Art, leitete dann die Popularisierung ein, die die Reproduktion eines Kunstwerks in der Konsumgesellschaft erreichen kann. 1985 veröffentlicht er ein Poster der Sixtinischen Madonna als Siebdruck, dessen Titel den Verkaufspreis angibt: Rafael I – $ 9,99.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Sixtinische Madonna von Soldaten der Roten Armee in der Nähe der zerstörten Stadt Dresden in einem stillgelegten Eisenbahntunnel gefunden. Das Gemälde wurde nach Moskau gebracht, wo es bis 1955 blieb, als die sowjetische Regierung entschied, es der DDR zurückzugeben. Bei seiner Ausstellung im Puschkin-Museum wartete eine riesige Menschenmenge still in der Schlange, um jenes Gemälde zu sehen, von dem Millionen von Russen eine Reproduktion besaßen. Dies erzählt uns, gleichzeitig bewegt und mit dramatischen Akzenten, Wassili Grossman, ein kommunistischer Intellektueller jüdischer Herkunft, in einem kurzen, jedoch außergewöhnlichen Text mit dem Titel Die Madonna von Treblinka. Die Sixtinische Madonna trägt hier das tragische Antlitz der vernichteten Menschen im dunklen Herzen des kurzen Jahrhunderts, und schreitet zusammen mit ihnen in eine Zukunft der Hoffnung und Erlösung.

Im Juni 1956 kehrte die Sixtinische Madonna in die wieder aufgebaute Gemäldegalerie zurück. Martin Heidegger schrieb bei dieser Gelegenheit: »Die Sixtina gehört in die eine Kirche zu Piacenza, nicht in einem historisch-antiquarischen Sinne, sondern ihrem Bildwesen nach. Ihm gemäß wird das Bild stets dorthin verlangen.« Aber der ursprüngliche Ort der Madonna di San Sisto hat sich seit dem Tag geändert, an dem das Bild dort zum ersten Mal ankam.

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