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Die trügerische Ruhe zwischen den Kriegen und Seuchen

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Über den renommiertesten Bildhauer seiner Zeit

Eine Erinnerung an die Schriftstellerin Grete De Francesco und ihr Buch „Die Macht des Charlatans“

Es ist eine vergnügte und gelöste Gesellschaft, die sich im Lichte eines Spätsommertags zum Segeltörn auf dem Starnberger See verabredet hat. Das Bild strahlt eine heitere Ruhe aus, ähnlich wie Edouard Manets berühmte „Barke“ in den nahen Münchner Gemäldesammlungen. Gut möglich, daß das am Vorabend des Ersten Weltkriegs erworbene Gemälde der Aufnahme Pate gestanden hat. Hier wie dort sind die Insassen in sonntäglich-sommerliches Weiß gekleidet, und eine Kunsthistorikerin stand an diesem Septembertag des Jahres 1918 hinter der Kamera: Carola Giedion-Welcker, deren Ehemann, der Architekt und Schriftsteller Sigfried Giedion, im Vordergrund die Barke lenkte.

Am anderen Ende, hinten im Bug, streckt die schlanke Figur einer jungen Frau, gehüllt in ein langes weißes tüllartiges Kleid, ihr schalkhaft lachendes Gesicht durch leichtes Vorbeugen des Kopfes unter dem dunklen Mast hervor, was einer ohnehin raffinierten Bildkomposition einen reizvollen Kontrast hinzufügt. Das Gesicht gehört der künftigen Schriftstellerin und Journalistin Grete De Francesco, die als Margarethe Weissenstein 1893 in Wien geboren wurde. Als intellektuelle Grenzgängerin war sie lange Zeit zwischen Österreich, Deutschland, Italien, Frankreich und der Schweiz unterwegs, bis ihr Leben aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und Gegnerschaft zum Faschismus in Italien und Deutschland noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs im berüchtigten Frauenkonzentrationslager Ravensbrück endete.

Auf dem Foto, dem einzigen Bild, das von ihr überliefert ist, wird Grete De Francesco flankiert von ihrem italienischen Ehemann Giulio, einem Ingenieur aus dem Südtiroler Rovereto: Als einziger Bootsinsasse ist er nicht in Weiß, sondern in das dunkle Tuch der Uniform eines österreichischen Korporals gekleidet, der deutlich erkennbare Kriegsverletzungen davongetragen hat: Sein linkes Auge ist hinter einer schwarzen Augenklappe, die rechte Hand unter einem schwarzen Handschuh verborgen. Und wie zu einer Geste der Verbeugung vor der Fotografin, ein freundliches und entspanntes Lächeln auf den Lippen, hat er die versehrte Hand seiner Brust aufgelegt.

Beim Ausgang der ersten großen europäischen Jahrhundertkatastrophe wirkt diese Fotografie wie das hoffnungsvolle Symbol eines Aufbruchs in eine neue Zeit und zu neuen Ufern des Lebens. Grete De Francesco blieb diese Segelpartie in so heiterer Erinnerung, dass sie noch Jahre danach in einem Freundesbrief davon schwärmte. Es war die Idylle eines einzigen Tages, und sie war trügerisch: Sie reihte sich ein in die wenigen sorglosen, von Krieg, Krankheit und Tod befreiten Septemberwochen zwischen dem Ende der ersten und dem Ausbruch der weitaus schlimmeren, zweiten Welle jener damaligen Pandemie, die als „Spanische Grippe“ in die Geschichtsbücher und Gedächtnisse einging.
Im Münchner Sommer des Jahres 1918 hatte auch Grete daran niedergelegen, wie ein Tagebucheintrag Sigfried Giedions es überliefert. Davor noch hatte sie einen Knaben zur Welt gebracht. Beinahe von Geburt an kränklich, verstarb der Junge im zarten Alter von nur fünf Jahren. Die Mutter wiederum litt zeitlebens an regelmäßig wiederkehrenden, chronischen Langzeitfolgen der ursprünglichen Viruserkrankung.

Ihre schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten hatte sie einer geschwächten gesundheitlichen Konstitution und weiteren Notlagen abgerungen. Vom Faschismus in Italien angewidert, verließ sie das Land, dessen Staatsbürgerschaft sie gerade erst angenommen hatte, und ließ sich Mitte der zwanziger Jahre in Berlin nieder. Zu ihrem dortigen Freundeskreis gehörten der Bauhaus-Künstler und Fotograf László Moholy-Nagy und der künstlerische Leiter der Kroll-Oper Hans Curjel. Sie selbst begann ein Studium an der Deutschen Hochschule für Politik und spezialisierte sich dort auf das neue Gebiet der Propaganda in Wort und Bild. Mit der prämierten Diplomarbeit „Das Gesicht des italienischen Faschismus“ absolvierte sie 1931 als erste Frau überhaupt den akademischen Zweig jener Kaderschmiede der Weimarer Demokratie. Ein Jahr darauf trat sie in die Feuilletonredaktion der liberalen „Frankfurter Zeitung“ ein, die jedoch bald ihren politischen Kurs änderte und infolgedessen auch die scharfzüngige Nachwuchsredakteurin wieder entließ. Nach 1933 fand Grete De Francesco ein neues publizistisches Obdach bei einem populärwissenschaftlichen Renommierprojekt des Basler Ciba-Konzerns, der in mehreren Sprachen erscheinenden „Ciba-Zeitschrift“ mit monatlich wechselnden, opulent illustrierten Schwerpunktheften zu Themen aus Medizin- und Kulturgeschichte.

Vielleicht vermochte nur jemand wie Grete De Francesco, die am eigenen Leib die krisenhaften Einbrüche sowohl in das Gesundheitswesen moderner Gesellschaften wie in die politischen Zeitläufte erfahren hatte, auch deutliche Parallelen zu erkennen zwischen den Jahrmarktsauftritten von Scharlatanen, Wunderheilern und Quacksalbern aus Europas Vergangenheit und dem fatalen Wirken falscher Propheten, populistischer Demagogen und selbstherrlicher Diktatoren in ihrer eigenen Gegenwart: „Genau wie der Mensch, so wird auch die Menschheit in den Krankheits- und Schwächeperioden ihrer Geschichte immer wieder zum Opfer von Charlatanen, die sich als Ärzte für die Leiden ihrer Zeit anbieten.“ Dies schrieb sie 1937 in ihrem Buch „Die Macht des Charlatans“, das – jahrzehntelange vergessen, so wie die Autorin selbst – 1937 im Basler Schwabe Verlag erschienen war und von deutschsprachigen Exilanten auf der ganzen Welt begrüßt und als camouflierte politische Aussage über das Gift der totalitären Propaganda verstanden wurde.

Heute, da es noch nicht lange her ist, dass ein populistischer amerikanischer Präsident seinen Landsleuten das Trinken von Desinfektionsmittel als – todsicher! – wirksame Arznei gegen den Corona-Virus verordnete, ist dieses Buch, das im vorigen Jahr als Neuausgabe in der „Anderen Bibliothek“ erschien, aktueller denn je, da medizinische und politische Scharlatanerie in Gestalt von Corona-Leugnern und anderen Verschwörungsgläubigen in eins gehen. Gemünzt auf die im Buch selbst ungenannten Gewaltherrscher und Diktatoren der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, denen ihre Nachfolger im 21. Jahrhundert nacheifern, hatte Grete De Francesco schon über die Verbreiter von Fake News, Halbwahrheiten und sogenannten „alternative Fakten“ geschrieben: „Daß er die Lüge nicht mehr als Lüge, und wenn auch nicht als Wahrheit, so doch als Wahrheitsersatz zu präsentieren verstand, darin war die Macht des Charlatans begründet.“ Heute reicht sie bis nach Moskau und Peking.

Volker Breidecker

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