Type to search

Venedig und der Dekadenzmythos um 1900

Share

Die Ausstellung des Rhinozeros, Pietro Longhi, 1751, Öl auf Leinwand, Ca’Rezzonico, Venedig. Zum Karneval 1751 wurde das indische Nashorn Clara von holländischen Kapitan Van der Meer nach Venedig mitgebracht.

Als Thomas Mann und seine Familie 1911 den Lido besuchten, symbolisierte Venedig in den Augen vieler Künstler und Intellektueller geradezu exemplarisch den „taumelnden Kontinent Europa” (Philipp Blom). Ein Jahr später erschien, als Parabel einer weit verbreiteten Untergangsstimmung, die Novelle Der Tod in Venedig. Der positivistisch, ja mechanistisch bestimmte Zeitgeist, wo der Tod „entweder veredelt oder mit Hygiene eingefangen“ wurde (Theodor W. Adorno), ließ subjektiven Ängsten keinen Raum. Das metaphysische Defizit schien die Unruhe noch zu verstärken. In der Kunstszene machte sich Orientierungslosigkeit breit. Kein Wunder, dass vor allem Motive der Décadence begeisterten. Das meistdiskutierte Gemälde der ersten Biennale (1895), Giacomo Grossos Il supremo convegno, thematisierte den Tod eines dekadenten Jünglings beim Liebesspiel im Kreis von Prostituierten. Das Publikum stand Schlange.
Lesern von Thomas Manns Novelle erschien – verständlicherweise – weniger die Cholera als „typisch venezianisch“, sondern die morbid-dekadente Atmosphäre, die noch Luchino Viscontis Verfilmung (1971) vermittelte. Die Seuche schlug 1911/12 vielerorts zu, doch nicht Neapel oder Palermo wurde zur literarischen Stadt des Todes, sondern Venedig. Durch ihr „zweideutiges“ Image schien die Adriametropole hierzu prädestiniert. Sie galt als kranke „Courtisane“, die ihr Leiden verheimlicht, als „Schönheit, die verlockt und mordet“ (Heinrich Mann).

Die Situation erinnerte an die Zeit der Pest: Die Seuche kam aus dem Osten, die Obrigkeit wiegelte ab, die Fakten widerlegten jedes Dementi. Brach im Mittelalter der Handel ein, war nun der Tourismus bedroht. Karl Kraus spottete 1911 über die offizielle Informationspolitik: „Verlogene Alarmgerüchte, verleumderische Tartarennachrichten, Gesundheitszustand der glänzendste – auf nach Venedig, auf zum Lido!“ Tatsächlich genoss die ehemalige Serenissima seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruf, auf seltsame Weise gesundheitliche Gefahr (besonders in den Kanälen, Gassen und verkommenen Spelunken) mit Heilung (vor allem auf dem Lido, wo sich ein respektabler Kurbetrieb etabliert hatte) zu verbinden. Durch die Verwöhnung wohlhabender Touristen versuchte man das Negativ-Image allerdings zu verdrängen – bei Thomas Cook in London ließen sich bereits Kurzbesuche buchen! Längst gab es um 1910 deutschsprachige Ärzte vor Ort wie Johannes Werner, welcher der Lebensreformbewegung nahestand und in seinem Buch Venedig und Lido als Klimakurort und Seebad vom Standpunkt des Arztes (1912) das „Badehüttenleben… in leichtester Bekleidung“ anpries. Zu den Schönen und Reichen am Strand stießen zahlreiche Intellektuelle, die sich von der mondänen Welt angezogen fühlten. 1907 hatte Heinrich Mann nach einem „Familienurlaub“ notiert: „Venedig war so zauberhaft wie immer. Wir waren alle sehr entzückt… Der Lido und Venedig, der Seestrand und diese Stadt, das ist mehr, als man sonst beisammen findet.“
Das Bild der heiteren Sommerfrische kontrastierte freilich mit der literarisch tradierten Todessymbolik. In Henri Régniers Roman La peur de l`amour findet sich, im selben Jahr 1907, der Satz: „Man sollte Venedig den Lebenden verbieten.“ Selbst die schwarzen Gondeln, die bereits Goethe an Wiege und Sarg erinnert hatten, beunruhigten. 1867 hatte Mark Twain das dunkle Fahrzeug, das seine Farbe den altvenezianischen „Luxusgesetzen“ verdankte, „als tintenschwarzes, verschossenes altes Kanu mit einem mitten draufgesetzten Leichenwagenaufbau“ bezeichnet. In der Novelle Thomas Manns stand es für “Scheu und Beklommenheit” und für „letzte, schweigsame Fahrt“, ja für “Bahre und Begräbnis”. Mit Nietzsche blickte man auf Venedig mit dem „gebrochenen Blick“ eines Sterbenden, „mit seiner unersättlich süßesten Sehnsucht nach den Geheimnissen der Nacht und des Todes“. Auch in der 1910 in Berlin uraufgeführten Komödie Cristinas Heimkehr von Hugo von Hofmannsthal erschien Venedig als Ort tödlicher Gefahr (wogegen die Protagonistin verzweifelt ankämpft).
Thomas Mann arbeitete 1911 – parallel zur Novelle – auch an einem Aufsatz, der erst 1922 unter dem Titel „Über die Kunst Richard Wagners“ erschien. Seine Kritik an dem Komponisten, dessen “Künstlertod” im Palazzo Vendramin Calergi (1883) unvergessen war, schloss nicht aus, dass einige seiner Dekadenz und Morbidität thematisierenden Frühwerke – angefangen mit Tristan (1904) und Wälsungeblut (1905) – um dessen Oeuvre kreisten. Mögen nun Wagner, Nietzsche oder Thomas Mann die Ursache gewesen sein – gefährdete Persönlichkeiten fühlten sich von Venedig weiter magisch angezogen. Hier wäre etwa Georg Trakl zu erwähnen, der 1913 zusammen mit Karl Kraus und dem Architekten Adolf Loos auf dem Lido Ferien machte. Schon vor der Reise schrieb der junge Lyriker, der ein Jahr später in Salzburg Selbstmord beging, an den Freund Erhard Buschbeck: “Die Welt ist rund. Am Samstag falle ich nach Venedig hinunter, immer weiter – zu den Sternen.“

In Venedig trafen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zwei Welten aufeinander. Jugend, Schönheit, Gesundheit, Robustheit, Genuss und Unbeschwertheit kontrastierten mit Gefahr, Krankheit und Schwäche, mit Alter, Melancholie und übersteigerter Sensibilität. Vor allem die deutschsprachige Literatur ließ sich von diesem Gegensatz inspirieren. Obwohl Thomas Mann 1913 die Zeit der “Verfalls- und Sterbegeschichten” selbst für beendet erklärt hatte, überlebte der Dekadenzmythos Venedigs zunächst sogar den Ersten Weltkrieg. Der Schriftstellerin Isolde Kurz erschien die Adriametropole jedenfalls noch in den Zwanzigerjahren als furchterregende Nekropolis. “Zerstörung mit tödlichen Schauern” liege in ihren abgestorbenen Palästen. Doch war dies nur ein literarischer Nachklang der Welt von gestern (Stefan Zweig), die in den Kriegswirren ein rasches Ende gefunden hatte.

Vgl. hierzu Klaus Bergdolt, Stadt der Gesundheit, Stadt des Todes. Aschenbachs Vorläufer und die Zweideutigkeit Venedigs”, in: Günter Blamberger, Sabine Meine, Björn Moll, Klaus Bergdolt (Hg.), Auf schwankendem Grund. Dekadenz und Tod im Venedig der Moderne. Paderborn 2014, S. 17-36. Die Grundthesen des Beitrags entstammen diesem Aufsatz.
Tags:
Vorheriges Artikel
Nächstes Artikel

Das könnte Sie auch interessieren