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Spaziergang auf der Giudecca

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Spaziergang auf der Giudecca

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Die legendäre Textilfabrik von Mariano Fortuny (1871 – 1949) auf der Insel Giudecca entstand 1919 als Seidenstoffdruckerei. Fortuny erfand dort neue Methoden der Textilfärbung.
Die von der Antike inspirierten edlen Stoffe evozieren Venedig bis heute.

Wer in Venedig im Bahnhof Santa Lucia ankommt, hat die Wahl zwischen zwei Hauptrichtungen: Nach links fährt das Vaporetto durch den Canal Grande, zwischen den grandiosen Palazzi hindurch nach San Marco. Da ist man schon mitten in der Serenissima, begegnet mit Heerscharen anderer Besucher jenen Sehenswürdigkeiten, die die Stadt weltberühmt gemacht haben. In der Gegenrichtung gelangt man auf die Insel Giudecca, in ein ganz anderes Venedig, hier gibt es selbst in der Hauptsaison keine Touristenströme, hier werden keine Rollkoffer über die Pflästerung gezogen, nach Souvenirshops, Geschäften mit Lederwaren, Masken oder Muranoglas muss man suchen, umso grösser ist das Sortiment für den täglichen Gebrauch. Die Giudecca ist eine Welt für sich. Obwohl nur rund 2000 Meter lang und 300 Meter breit, ist sie das grösste Eiland der Lagune, bestehend aus acht einzelnen Inseln, die durch Kanäle voneinander getrennt sind. Das soziale Spektrum reicht von den Bewohnern der Arbeitersiedlungen über Zweitwohnungsbesitzer, Studierende, Galeristen und Kunstschaffende bis zu den Gästen der Luxushotels. Im Jahre 2022 zählte die Giudecca 4067 ständige Bewohner.

Den Hauptblickfang der Giudecca bildet ein gigantisches Backsteingebäude, der von Giovanni Stucky, dem Sohn eines Schweizer Auswanderers, gegründete Molino Stucky, einst die grösste Kornmühle Europas, heute ein Hilton-Hotel. Auf dessen Rückseite liegt das Frauengefängnis, wo jeden Donnerstag das von den Inhaftierten angebaute Obst und Gemüse verkauft wird. Am anderen Ende der Giudecca befindet sich das weltberühmte Hotel Cipriani, der Inbegriff von Eleganz und Luxus.

Neben Fortuny befindet sich das Atelier des Installationskünstlers Fabrizio Plessi. Hier sein Anello, ausgestellt im Museo di Santa Giulia, Brescia

Mit dem Bau des Eisenbahndamms zum Festland und der Erweiterung des Handelshafens begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung Venedigs. Zu den Angestellten der Grossmühle und den Fischern, die seit jeher den Westen der Giudecca bewohnen, gesellten sich Fabrikarbeiter.

Die Gegend um den westlichen Teil der Insel wurde damals Wirtschaftszentrum. Nur wenige Schritte vom Molino Stucky entfernt steht der Industriekomplex der ehemaligen Dreher-Brauerei, der zu Wohnraum umfunktioniert wurde und auch für die Biennale genutzt wird. In unmittelbarer Nähe eröffnete 1944 die in Rom gegründete Scalera Filmgesellschaft in ungenutzten Ställen und Heuschobern ihr venezianisches Domizil. 1952 ging das Unternehmen bankrott, die Studios schlossen ihre Pforten. Auf dem Grundstück wurden Wohnungen gebaut.

1877 verlegten die aus Deutschland stammenden Brüder Christian und Hans Herion den Sitz ihrer Strickwarenfabrik von Venedig in die ehemalige Kirche Santi Cosma e Damiano auf der Giudecca. Die damals von den Herion-Brüdern gegründete erste italienische Uhrenfabrik, die 1903 von Arthur Junghans übernommen wurde, stellte in den 1920er Jahren 1500 Uhren pro Tag her. Zu ihren prominenten Mitarbeitern gehörte der Schweizer Künstler und Designer Max Bill, der zahlreiche erfolgreiche Modelle entworfen hat. Später produzierte das Unternehmen auch Kriegsgeräte, 1971 wurde es geschlossen.

Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts fördert Venedig Projekte zur Umnutzung stillgelegter Industrieanlagen und zur Erstellung preisgünstiger Wohnungen für junge Familien. So wurden in der Folge unter Beibehaltung des Namens Junghans nach einer nutzungsübergreifenden Sanierung eine Spielstätte für die alternative Theaterszene Venedigs geschaffen und Wohnanlagen in den ehemaligen Fabrikgebäuden errichtet. Im Westen des Eilandes wurde in den 1960er Jahren durch Aufschüttungen der Inselbereich Sacca Fisola für den Bau von meist drei- bis fünfstöckigen Häusern mit Innenhöfen erschlossen. So sollte bezahlbarer Wohnraum für die Werktätigen entstehen. Es sind gesichtslose Sozialbauten, wobei es keineswegs die Absicht war, eine blosse Schlafstadt zu schaffen. Spektakulär war das Sanierungsprojekt von Campo di Marte, für das 1985 zehn Architekten zu einem internationalen Wettbewerb eingeladen wurden. Als Sieger gingen daraus der Portugiese Álvaro Siza Vieira, die Italiener Carlo Aymonino und Aldo Rossi sowie der Spanier José Rafael Moneo Vallés hervor. Die neuen Unterkünfte sind sowohl ein Beitrag zur Lösung des Wohnproblems in Venedig als auch das Resultat einer gelungenen städtebaulichen Aufwertung des Gebietes hinter der Zitelle zwischen dem Giudecca-Kanal und der südlichen Lagune.

Weitgehend unverändert geblieben ist die einzige noch aktive Fabrik auf dem Eiland, die Stoffmanufaktur Fortuny im ehemaligen Kloster San Biagio unmittelbar neben dem Molino Stucky. Sie wurde gegründet von dem aus einer spanischen Künstlerfamilie stammenden Mariano Fortuny, einer Legende der Modewelt mit kometenhaftem Aufstieg. Fortunys Produktionsstätte umfasste Stoffdruckerei und Färberei, Schneiderei, Tischlerei, Mal- und Fotoateliers. Der Schriftsteller Marcel Proust schwärmte in «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» von Fortunys traumhaft schönen Stoffkreationen, und zu seinen Kundinnen zählten Berühmtheiten wie die Schauspielerinnen Eleonora Duse und Sarah Bernhardt oder die Tänzerin Isadora Duncan. Heute wird das Unternehmen von den Brüdern Maury und Mickey Riad geführt. Sie haben die Kollektion der klassischen Baumwolldrucke durch feine Wollstoffe und Mohair-Kaschmirsamte ergänzt.

Zur Visitenkarte eines speziellen Ortes gehört auch die kulinarische Kultur. Da gab es früher auf der Giudecca einfache rauchige Gaststätten, dunkel, altmodisch, gemütlich, in die Arbeiter ihr Essen selber mitbrachten. In älteren Venedig-Führern wurde das Mistrà besonders erwähnt, das Restaurant der grossen Schiffswerft, das heute unter dem Namen «Da Crea» weitergeführt wird. Legendär war «Food and Art», die Kantine der Giovanni-Toffolo-Werft am Campo Junghans, wo ein 11-Euro-Menü serviert wurde mit Vorspeise, Pasta, einem Fleischgericht, dazu Mineralwasser, Wein, Espresso und Obst. Es gab keine Speisekarten, man sah das reichhaltige Angebot in den Auslagen. Im Inneren hing ein Bild von Antonio Gramsci, dem marxistischen Philosophen und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. Unlängst musste diese Mensa, in der Werftarbeiter, Einheimische und in jüngerer Zeit auch Studierende zirkulierten, einem Neubau weichen. An einem Seitenkanal beim Ponte Longo stösst man auf das traditionelle gehobene Fischrestaurant Altanella, Lieblingslokal von Gabriele D’Annunzio und des zweifachen Oscarpreisträgers und Filmproduzenten Robert de Niro.

Seit jeher zog es Berühmtheiten auf die Giudecca, von Michelangelo bis zu Elton John und George Clooney. Michelangelo hielt sich 1529 auf der Insel auf, wo er einen nicht ausgeführten Entwurf für den Wiederaufbau der abgebrannten Rialtobrücke anfertigte, Goethe besuchte den imposanten Redentore, eine 1575 nach Plänen von Andrea Palladio erbaute Votivkirche. Von hier aus ist der Blick über den Giudecca-Kanal hinweg auf die Kirche Santa Maria della Salute, den Campanile von San Marco und den Dogenpalast besonders reizvoll. Einen weiteren städtebaulichen Akzent setzt die unter Palladios Beteiligung errichtete Kirche Zitelle, einst mit einem Kloster verbunden, in dem junge, aus ärmlichen Verhältnissen stammende Mädchen und Waisenkinder kunstvolle Spitzen herstellten. Die ehemalige Kirche Cosma e Damiano gehörte zu einem Kloster, das im Zuge der Säkularisation aufgelöst wurde. Der romanische Kreuzgang in einem pittoresken Innenhof eignet sich heute bestens zum Wäschetrocknen. Der Gebäudekomplex beherbergt Wohnungen, Ateliers und das Archiv des venezianischen Komponisten Luigi Nono.

Zu den Besonderheiten der Giudecca gehört auch ein Hangar für 460 Boote und Gondeln mit mehreren Abstell-Ebenen und Fachwerkstätten. Oder die Casa dei Tre Oci, bis vor kurzem ein hochkarätiges Fotomuseum, heute Berggruen Institute, Zentrum für den europäischen Dialog. Oder die wunderbaren Gärten, vom Gemüsegarten des Kapuzinerklosters der Redentore-Kirche über den Giardino Comunale und den Garten der Villa Herriot, der ehemaligen Residenz eines französischen Seifen- und Kosmetikproduzenten, heute Sitz der «Casa della Memoria e della Storia», mit der prachtvollen Sicht auf den südlichen Teil der Lagune bis zum geheimnisvollen Garten, den der Engländer Frederic Eden im 19. Jahrhundert geschaffen hat. Hier flanierten Marcel Proust, Henry James und Rainer Maria Rilke. In den 1970er Jahren wurde er mit dem dazugehörigen Palazzo an den österreichischen Künstler Friedensreich Hundertwasser verkauft, der ihn seinem ökologischen Credo folgend verwildern liess.

So lernt man auf der Giudecca ein anderes Venedig kennen, einen Ort voller Kontraste, den man erkunden kann, ohne von Touristenströmen bedrängt und geschoben zu werden.

Franz Zelger

 

 

 

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