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In eigener Sache

In eigener Sache 2022

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Stefania und Annamaria auf Ischia

Vedi Napoli und e poi muori

„Vedi Napoli e poi muori“ (J. W. Goethe)

Die Norditaliener sind selten gut auf Neapel zu sprechen. Mir klingen noch Geschichten über eine entfernte Tante in den Ohren, die zum Entsetzen aller nach Neapel „hinabheiratete“ und erst wieder in die Ränge der Familie aufgenommen wurde, als die Scheidung eingereicht war und sie nach Venetien zurückkehrte. Unvergessen bleiben die Schilder der norditalienischen Städte der 60er Jahre: „Vermietung nicht an Süditaliener“. Man befürchtete, dass in den Badewannen Basilikum angebaut wurde.

Vorurteile sind wie ein eisernes Korsett, aus dem man sich schwer befreien kann.
Es ist nur wenige Monate her, dass ich mit meiner Mutter vor einem heruntergekommenen Palazzo in Neapel stand und versuchte, das Wappen am Eingang zu entziffern. Ein etwas ramponierter Herr sprach uns im elegantesten Italienisch an: “Wissen die Damen, dass dieses Herrenhaus eine Geschichte hat, die bis ins 16. Jahrhundert zurückgeht? Möchten Sie mein Haus besuchen?“ Überrascht wollte ich schon ablehnen, aber meine Mutter war schneller und folgte dem Herrn fröhlich. Wir durchschritten einen dunklen Innenhof und nahmen einen wackligen Fahrstuhl nach oben.

Der Herr machte sich am Schloss zu schaffen. Ich zweifelte, ob er wirklich hier wohnte, oder das Ganze unangenehme Folgen haben würde, aber dann ging die Tür auf und wir traten in eine der spektakulärsten Wohnungen, die ich je gesehen habe. Herrschaftliche Räume mit hohen Decken von Stuck und Fresken verschönert, Zimmer für Zimmer gingen wir weiter, durchquerten eine Bibliothek und kamen endlich in den Wintergarten mit den berühmten Zitrusfrüchten, die Goethe so pries. Der Blick, der sich uns eröffnete, ging bis zur Burg Maschio Angioino. Der Hausherr blickte zu meiner Mutter, die den Moment sichtlich genoss und sagte: „Sehen Sie, Mamma felice, vita felice.“ Erst nach ein paar Augenblicken verstand ich, dass er meine Voreingenommenheit gespürt hatte. Mit seiner kleinen Spitze lobte er meine Mutter, die sich nicht von ihren Ängsten beherrschen ließ.
Als ich die darauffolgende Einladung zum Mittagessen höflich ablehnte, fügte meine Mutter seufzend hinzu: „Wie schade, dass wir gleich die Fähre nach Ischia nehmen. Es ist wegen meiner Tochter, wissen Sie, ihr Rücken… ich begleite sie, um ihr einen Gefallen zu tun.“

Neapel, die „neue Stadt“ der Griechen, kämpft immer noch mit dem Stereotyp eines sündigen Südens. Mir fällt die spontane Bemerkung meiner alten Friseuse in Venedig ein, als sie erfuhr, dass ich einen Deutschen heiratete: „Auch unter den Deutschen gibt es gute Menschen.“ Sicher ist, dass Neapel – im 18. Jahrhundert eine Weltstadt von Rang wie London und Sankt Petersburg – ihr immenses Vermögen an Kunst und Kultur bis heute erhalten hat. Der 37-jährige Goethe verfiel der Faszination von Venedig, bewunderte Rom, ignorierte Florenz und liebte Neapel: „Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkener Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch.“

Mehr als alles liebte er die Neapolitaner, die fürs Leben arbeiteten und nicht, um Geld zu verdienen und die Straßen zum eigenen Arbeitsplatz hatten: Gepäckträger, Kutscher, Fischer, Kleinhändler, Schuhputzer. „Die vielfarbigen Blumen und Früchte, mit welchen die Natur sich ziert, scheinen den Menschen einzuladen, sich und alle seine Gerätschaften mit so hohen Farben wie möglich herauszuputzen“, das gefiel ihm und auch „diese ausgezeichnete Fröhlichkeit, die man überall erblickt mit dem größten teilnehmenden Vergnügen“.
Auch wenn die Neapolitaner mit den Institutionen nie warm wurden, so haben sie doch ihre letzte Königin geliebt. Maria Sofia, eine geborene Wittelsbach, Schwester von Sissi, war schön, mit blauen Augen und schrägem Benehmen. Ihre Kindheit verbrachte sie auf dem Schloss von Possenhofen, bis sie per Ferntrauung Francesco II. heiratete und mit achtzehn zur Königin gekrönt wurde. Sie ritt durch die Straßen von Neapel mit einer Zigarette im Mund und dem Gewehr unterm Arm, brachte Zwillinge zur Welt, deren Vater nicht der König war. Neapel hatte seine Herzenskönigin, die sie bis zum Schluss liebten, als sie buchstäblich auf die Barrikaden ging, um den bourbonischen Staat gegen den Piemont zu verteidigen.

Eine ähnliche Innigkeit mit der Stadt erlebte ein Straßenjunge aus Buenos Aires, der am 5. Juli 1984 aus den Katakomben des Fußballstadions heraustrat und mit seiner 1,67 Meter großen Wenigkeit den Sport für alle Zeiten veränderte. Die 80.000 Zuschauer adoptierten ihn umgehend, als er seinen ersten Ballkontakt vollführte, und begleiteten ihn unverändert vergötternd auch in den schlechten Zeiten, weil er, Diego Armando Maradona, die Neapolitaner von den „Ohrfeigen im Gesicht befreit“ hat. „Ci ha tolto gli schiaffi dalla faccia“, sagt man bis heute noch, und meint damit, dass er der Stadt den gebührenden Respekt wiedergebracht hat.
Das Stadion trägt heute seinen Namen und eine maßstabsgetreue Statue mit dem goldenen Fuß erinnert an eine Liebe, die Generationen überdauern wird, oder noch länger, denn El Pibe de Oro ist nicht gegangen, auf der Tafel steht geschrieben: „Armando Diego Maradona 1960 – Unendlichkeit.“ Stefania Canali

Stefania Canali

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