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In eigener Sache

In eigener Sache 2021

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An einem Ostermontag in den Achtzigerjahren fuhr ich mit einem deutschen Freund von Venedig auf die Alpe di Siusi.
Es waren etwa 130 Kilometer Luftlinie von der Lagune in die Dolomiten. Ich sprach noch kein Deutsch, ahnte also nicht, dass die größte Hochalm Europas bekannter war unter dem Namen Seiser Alm und noch weniger, dass mich über die venezianischen Grenzen hinaus ein ganz anderes Italien erwartete.
Gut angekommen suchte ich uns gleich ein gemütliches Lokal. Ich als Gastgeberin, versuchte die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf uns zu ziehen, leider vergeblich, denn meine Gesten und Ausrufe: „Signorina, scusi“, wurden schlichtweg ignoriert. Erst als der Freund es mit einem sonoren „Fräulein“ versuchte, eilte die viel beschäftigte Dame an unserem Tisch. Mit engelsgleicher Stimme zwitscherte sie „Bitte schön, der Herr, Sie wünschen?“. Ich verstand kein Wort, wohl aber die Vertrautheit zwischen den beiden: auch im eigenen Land kann man Ausländer sein.

Zehn Jahre später parkte ich mit dem gleichen deutschen Freund, der mittlerweile mein Mann geworden war, vor einer prächtigen Kirche in Syrakus. Es war ein klarer Dezembertag und wir machten uns eifrig auf Entdeckungstour der griechischen Stadt. Als wir voller Einkaufstaschen und guter Stimmung zurückkehrten, standen neben unserem Auto zwei imposante Figuren, dekoriert mit allen möglichen Orden und Medaillen: „Mamma mia, i carabinieri!“ Die unerbittlichen Ordnungshüter waren dabei, unser Auto mit Hilfe eines Krans zu entfernen. Eigentlich zu Recht, ich hatte nämlich einen Hinweis übersehen, dass an diesem Tag die Prozession der Heiligen Lucia stattfand.
Ohne zu überlegen, flüsterte ich meinem Mann zu, sich bei den Carabinieri zu entschuldigen. Mit seinem deutschen Akzent würde er sie vielleicht beschwichtigen, ich hingegen mit meinem Nord-italienisch, würde nur für Irritation und Unnachgiebigkeit sorgen. Und genauso kam es auch.
Mit einer theatralischen Geste wurde der Strafzettel zerrissen und der eine Carabiniere beendete das Verfahren mit dem Satz: „Signore, la nostra città onora il visitatore.“
Der Deutsche war der verehrte visitatore, der dann auch noch zu fragen wagte: „Und wo können wir gut landesüblich essen gehen?“ Und da leuchteten die Augen der Carabinieri wirklich auf. Hier war ein Ausländer, der die lokalen kulinarischen Delikatessen schätzte. Und wenige Augenblich später flitzten wir falschrum durch eine Einbahnstraße, brav dem Auto mit dem Blaulicht folgend, und hielten kurz darauf vor der Tür des empfohlenen Restaurants, in dem das Essen natürlich göttlich war.

Italien hat, wie kaum ein anderes Land, eine vielfältige Kulturüberschichtung: fränkisch-germanisch im Norden, byzantinisch-slawisch im Osten, etruskisch-römisch im Zentrum, griechisch-arabisch-normannisch im Süden, ein Puzzle der Ethnien, der Kulturen, der Sprachen. 1304 kam ein Poet endlich zur Rettung, der Florentiner Dante Alighieri, ein Flüchtling, verbannt aus seiner zerstrittenen Heimat Florenz: seine „Göttliche Komödie“ war eine Revolution, nicht nur, weil sie auf Italienisch geschrieben war anstatt im üblichen Latein, sondern auch als Zündung der Idee eines vereinten Italiens.
700 Jahre genau sind seit dem Tod von Dante vergangen, einiges hat sich verändert, allerdings erst in den letzten Jahrzehnten.

Es war der Erste Weltkrieg, der Italien vereinte, zumindest sprachlich: die Süditaliener kamen zum ersten Mal mit den Norditalienern zusammen und gemeinsam gingen sie an die Front. Sie waren Italiener von Gesetzes wegen, sie wurden Brüder durch das gemeinsame Leid. Die einen aßen Reis, die anderen Pasta, die einen kochten mit Butter, die anderen mit Olivenöl. Die einen erlebten eine rasante industrielle Entwicklung, die anderen bearbeiteten ohne mechanische Hilfe die Erde. Die einen gingen überwiegend zur Schule, die anderen kaum. Bis in die Fünfzigerjahre hinein konnte die Hälfte der Italiener schlecht lesen und schreiben, jeder aber wusste die großartigen Gemälde zu deuten, die in den Kirchen hingen, die Opern auswendig nachzusingen, jeder lernte aus der Harmonie der Architektur, aus der Fülle der Kunstwerke eine andere Sprache: die der Kunst und der Schönheit.
Und jeder, ungeachtet der Bildung, des Berufs, fühlte sich wie ein Künstler. In jeder Region erscheint Italien malerisch anders, und sogar innerhalb derselben Region ändern sich das Panorama, die Sprache und die Lebensformen: Von den höchsten Alpengipfeln im Norden über aktive Vulkane im Süden, umschlossen von Meeren und bespickt mit Seen, spricht man auf der Halbinsel 33 staatlich anerkannte Sprachen und zudem noch eine unzählbare Anzahl von Dialekten. Damit nicht genug, auf der Route von Turin bis Pantelleria im südlichen Mittelmeer, entdeckt der Reisende jeden Tag unendliche, köstliche Variationen von Speisen und Getränken, ohne je zwei Mal dasselbe gegessen zu haben. Italien ist noch heute ein Land der Individuen und Miniaturstaaten, in denen der Föderalismus gegen den Lokalpatriotismus immer den Kürzeren zieht. Denn all diese eigenständigen Kulturen schwächen zwar den Gemeinsinn, ernähren allerdings die furiose Fantasie und das unersättliche Streben nach Kreativität. Was Italien letztendlich wirklich vereint, ist die italianità, diese Kraft, tragische Verstrickungen des Lebens mit Leichtigkeit zu bewältigen, gepaart mit einer ungebremsten Freude am Leben, und … und das ist eben genau das Italien, was Goethe – und Dante hätte hier zugestimmt -, in seinem berühmten Zitat „ein Bild der Seele, der Schlüssel zu allem“ verewigte.

Stefania Canali

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