In eigener Sache 2020
Share
Vom Original zum Faksimile
Meine Mutter wird 90 Jahre alt und seit 90 Tagen können wir nur miteinander telefonieren. Ich rufe aus Frankfurt an, sie antwortet aus Rom, meistens reden wir über Alltägliches. Tiefgründiger ist unser reger Briefaustausch. Die Post zwischen Deutschland und Italien funktioniert tadellos. Diese eigenartige Zeit haben wir BC und AC (Before und After Corona) getauft. Das schien uns geistreich, da das Leben gerade ein neues ABC bekommt.
Im Februar, als der italienische Name des Virus noch nicht in aller Munde war, hatten wir so viele andere Themen. Ich sprach über ihren Antikonformismus, sie war eine so untypische italienische Mutter. Sie lobte meine unbändige Fantasie, erwähnte aber auch meine Schwäche für Süßes. Ich kritisierte die ausschweifenden Freiheiten, die sie mir und all ihren Kindern gelassen hat, sie lachte über mein exzessives Pflichtbewusstsein – „bin ich deine Mutter oder du meine?“ – ich erinnerte mich an unsere vielen gemeinsamen Sommerstunden am Lido von Venedig, sie mich an ihren Wunsch, Afrika zu bereisen…
Im März, als Corona plötzlich mehr mit Italien gemein hatte als bloß den Namen, wurden meine Sorgen um meine Mutter konkret. Doch sie schrieb mir nur von der großen Epidemie, der Spanischen Grippe, die 1918, noch vor ihrer Geburt, einige Verwandte dahingerafft hatte. Sie, die passionierte Linguistin und unheilbare Optimistin, wies auf das Wort Epi – Demos hin, dem ganzen Volk, und erinnerte, dass für die Griechen eine Epidemie auch den Keim des Guten in sich trug. Sie lag richtig: der Krankheit folgte in Italien eine Gegen-Epidemie der Solidarität, die an Aufopferung grenzte. Tausende Freiwillige meldeten sich, um auch ohne Schutzausrüstung das Gesundheitssystem zu unterstützen. 1468 waren es die Venezianer, die oft von Seuchen heimgesucht wurden und aus diesem Grund das erste Lazarett der Geschichte auf der Insel San Lazzaro gründeten. Schiffe, die während einer Epidemie in Venedig eintrafen, mussten in „Quarantena“, das bedeutet vierzig Tage; so lange wurden sie auf die Insel verbannt.
Meine Mutter brachte meine vier Geschwister und mich nach San Lazzaro. Wir spielten im Schatten der Zypressen, die gutmütigen armenischen Mönche, welche die Insel bewohnen, schienen sich über unseren Besuch zu freuen. Zahlreiche Städte wie Mailand, Genua, Livorno, Ancona, Rom oder Messina taten es Venedig gleich. Ihre Lazarette, die damals Pilgern aus dem Norden dienten, sind heute vergessene Wunder der Architektur, die man besuchen sollte. Auch darüber sprachen meine Mutter und ich in diesem ungewöhnlichen März. Ich lobte ihr Gedächtnis, sie tadelte den Gedächtnisverlust der Jüngeren. Über Gedächtnis spricht meine Mutter wie andere über Geldanlagen: sie meint, wir sollten es hüten und lebendig halten, damit es Früchte für die Zukunft trägt. Stattdessen benehmen wir uns wie Autofahrer, die knapp einem Unfall entgehen. Für ein paar Minuten fahren wir vorsichtiger, dann treten wir wieder aufs Gas. Dabei ist gerade in dunklen Zeiten ein lebendiges Gedächtnis wertvoller denn je: es gibt uns Kraft und Bewusstsein, es hilft, die Entbehrungen und Miseren von früher zu verstehen, aber auch die Lösungen, die zur Besserung geführt haben.
Im April zeigt sich ein erster Lichtstrahl: Buchhandlungen, Mal- und Kindergeschäfte dürfen wieder aufmachen. Meine Mutter wundert das gar nicht: Bücher sind die Grundernährung eines Landes, Buntstifte die besten Utensilien für die Fantasie der Kinder. Auch das ist Italien: ein Land, das auch im schwersten Kampf nie das Recht zur Freude und Schönheit aufgibt. Bei all ihren vielen Talenten war die Mutter jedoch nie eine gute Sängerin. Vielleicht deshalb hat sie uns Kinder immer zum Singen animiert. Aus Rom erzählt sie, dass sie jeden Tag um sechs Uhr abends den improvisierten Konzerten von den Fenstern und Balkonen zuhört: Der Barbier, die Kassiererin, der Lehrer, der Priester, die Mutter, ihr Kind, ein kollektives Lied, ein Gefangenen-Chor aus Nabucco, ein Azzurro, das in die Melodie von Puccinis Vincerò übergeht, alles und alle vereint zu einem Regenbogen der Hoffnung, der verspricht: Andrà tutto bene.
Mutter, du solltest dich ausruhen, nicht so viel schreiben, sprechen, dich nicht immer erinnern. Von wegen: „Weisst du, was Papst Franziskus, der ja auch in die Jahre kommt, einem Journalisten antwortete, als er ihm ein bisschen mehr Ruhe wünschte? ‚Mein Freund, das Leben darf nicht auf Sparflamme gelebt werden, denn danach werden wir noch genügend Zeit zum Ausruhen haben.‘“
Cara Mamma, ich sollte dir etwas schenken, aber du lehnst konventionelle Gesten ab, stattdessen beschenkst du mich immer wieder, in deinem letzten Brief mit zwei Zeilen meines verehrten Zagajewski: „Wir sind noch am Leben, erfüllt von Gedächtnis und Vernunft.“
Zu deinem Geburtstag umarme ich dich aus der Entfernung, die gar keine ist, und mit dir alle Mütter, die uns unermüdlich beschenkt haben und beschenken werden.
Folgen Sie uns