Arrigo Cipriani – Der letzte Doge von Venedig
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Paolo Sarpi, einer der klügsten Köpfe Venedigs, sagte einmal über seine Stadt voraus: „Du wirst ewig leben!“
500 Jahre später schauen wir noch immer auf dieses fragile Wunder in der Lagune und staunen. Die Serenissima lebt, getragen vom Wind, wie ein prächtiges Schiff. Sie segelt weiter, mit den hohen Masten ihrer Türme, den goldenen Kuppeln ihrer Kirchen, den schrägen Häusern, die sanft an Palästen lehnen, und ihren Menschen, welche die Schönheit in den Augen tragen. Sie lebt und sie erzählt uns ihre Geschichte, eine Geschichte des Lebens und des Todes, der Freiheit, der Freude, der Würde. Der höchste Würdenträger der Republik war stets der Doge und mit dem letzten Dogen, Arrigo Cipriani, Patron des Harry’s Bar, saß ich heute beim Mittagessen und hörte zu.
Vor 90 Jahren im Mai 1931 entstand in Calle Vallaresso, einer schmalen Gasse hinter dem Markusplatz, ein winziges Lokal, gerade einmal 9×5 Meter groß. Es war, wie die Kritiker beteuerten, „kein Café, keine Bar, kein Restaurant“, es war eine Vision und es wurde eine Legende.
Der Gründer war Giuseppe Cipriani, Vater des heutigen Besitzers Arrigo. Giuseppe, erzählt mir Arrigo, verbrachte eine glückliche Jugend als Sohn eines Maurers aus Verona in Schwenningen am Neckar, und musste mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zurück nach Italien. Er lernte früh, dass Kriege Hunger und Not bringen und ein warmes Essen Menschen aller Klassen und Couleur friedlich zusammenbringt.
Giuseppe, voller Elan und Fantasie, wurde Wirt in Venedig. Und zwar ein genialer, denn er schaffte es, die Renaissance-Maler Bellini und Carpaccio als Cocktail und als Vorspeise berühmter zu machen, als sie jemals durch ihre Kunst vermocht haben. Er war so begabt, dass er Könige zusammen brachte, einmal sogar vier an einem Tisch, aus Spanien, Niederlande, Jugoslawien, Griechenland, Ölmagnaten wie den Aga Kahn, Dirigenten wie Toscanini, Sängerinnen wie Maria Callas, Schauspieler wie Orson Wells und Regisseure wie Charlie Chaplin, und dann natürlich Schriftsteller in Scharen, wie sein Stammkunde Ernest Hemingway, der Harry’s in seinem „Über den Fluß und in den Wäldern“ literarisch verewigte.
Seit 2001 ist Harry’s Bar ein nationales Denkmal, und nichts darf im Lokal verändert werden: nicht die kleinen runden Tische mit drei Beinen, die stoffbezogenen Wände oder die Velours-Sessel.
Arrigo, gerade 89 geworden, lacht vergnügt, wenn er an seinen Namen denkt. „Ich hätte Harry heißen sollen, aber in den faschistischen Jahren waren Fremdnamen verboten, also wurde aus Harry Arrigo.“ Arrigo ist ein Mensch voller Energie. Auf dem Festland ist er immer noch der waghalsige Fahrer eines Mercedes 580, und sobald er wieder in Venedig ist, steigt er auf sein Schnellboot und flitzt weiter, bis er sein Restaurant erreicht, dass er immer noch einfach stanza, Zimmer, nennt.
Jeden Tag begrüßt er seine Gäste Tisch für Tisch nach dem alten Prinzip des Vaters: mit einem warmen Lächeln, hoher Qualität, Einfachheit.
„Was bedeutet Innovation?“, frage ich, blitzschnell kommt seine Antwort: „Die Tradition gut interpretieren. Und Tradition ist das verkannte Vermögen, der wahre kulinarische Reichtum des Landes. Was sind wir für ein glückliches Land, jede Region, jede Stadt hat ein Vermögen an unterschiedlichen Rezepten, die von Generation zu Generation überliefert werden. Nichts ist den Italienern ernster als das, was sie am Tisch bekommen.“
„Heute“, fügt Arrigo hinzu, „sind alle Chefs, schon der Name irritiert mich, für mich gibt es nur Köche.“ Denn Chefs seien immer unterwegs, am liebsten im Fernsehen, wo sie alles Mögliche verkaufen, diskutieren, aber wer kocht im Restaurant? „Deshalb bin ich ein Liebhaber der Trattoria, dieser italienischen Institution, wo gut gegessen wird, wo die Hände von Frauen und Männern in der Küche rollen, formen, füllen, um den Gast zu beglücken.“
Ich sage: „Arrigo, du bist streng.“ – „Nein ich bin nicht streng, ich bin vernünftig und anspruchsvoll und deshalb gegen [hier ist die Liste lang]:
Die Überheblichkeit von Chefs und Bedienung, Degustationsmenus, wir wollen frei sein, zu wählen, auch nur ein Stück guten Brotes.
Unnötige Dekorationen am Tisch, ich schaudere vor den riesigen Tellern und dem gekünstelten Besteck, den minutiösen, langweiligen Erklärungen jedes Gangs, der teuflischen Glasparade (ich war überrascht, dass alles Flüssige im Harry’s in leichten, bauchigen Kristallgläsern serviert wird). Dies alles dient der visuellen Küche, dem Wundereffekt, nicht dem Wohlbefinden des Gastes. Und vor allem bin ich gegen die Erwähnung in den Restaurantführern des französischen Reifenproduzenten.“ (das Wort Michelin ist nicht aus seinem Mund zu holen).
„Ich erinnere mich noch genau daran“, sinniert Arrigo, „als wir die 2 Sterne erhielten. Wie freudig ich meinem Vater die Nachricht überreichte und wie nüchtern er mir antwortete, denn gerade solche Dinge sind nicht wichtig.“
Arrigo erzählt weiter: „Ich empfehle aber: kleine runde Tische, rund wie die Form des Universums, und nicht höher als der Bauchnabel.
Als wir im Palazzo Ducale ein G7-Abendessen vorbereiteten, setzte ich alle sieben Präsidenten an einen runden Tisch, die Kommunikation war hervorragend, es gab keine tote Winkel, die Laune war herrlich, und damit auch die politischen Ergebnisse. Eine gute Akustik. Ober, die alles merken, ohne aufdringlich zu wirken. Tischdecken und Servietten aus Stoff.“
Inzwischen waren wir beim Kuchen, der einzigartigen Zitronen-Torte, als ein Ober an unserem Tisch unauffällig eine Art Leinenzylinder ausrollte, der sich in eine frische weiße Tischdecke verwandelte.
Übrigens: ich hatte wunderbare Seppie mit Polenta, einen Prosecco aus der Karaffe, das gelobte Dessert und das anregendste Gespräch seit langem.