Crêuza de Mä – Die alte Hafenstadt, ihr Sänger und das Meer
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Max Beckmann, Der Hafen von Genua, 1927, Öl auf Leinwand, SAINT LOUIS Art Museum
Das Mittelmeer ist bis an die Ränder gefüllt mit Poesie und Wissen, mit Erzählungen und Legenden, mit Schriften und Tönen, mit Melodien und Klängen. Auf alten Seekarten – nach dem italienischen Wort für Hafen „Portolankarten“ genannt – sind die Küstenverläufe rund ums Mittelmeer mit den Namen tausender millimeterdicht nebeneinander aufgereihter Orte beschriftet. Mittelmeerschifffahrt hieß lange Zeit nichts anderes, als sich wie auf Straßen und Wegen immerzu in Küstennähe zu bewegen, um den Stürmen und den Piraten zu trotzen. Mit den Worten eines portugiesischen Schiffsschreibers bedeutete es überdies, „von einem Wirtshaus an der Küste zum anderen zu fahren, hier zu Mittag und dort zu Abend zu essen“.
Das Meer gehörte der Stadt. „Königin der Meere“ nannte der Dichter Petrarca die Hafenstadt Genua, die mit ihrer Handels- und Kriegsflotte ein Imperium errichtet hatte, dem allein die adriatische Rivalin Venedig das Wasser reichen konnte. Beide Städte hatten ihren Reichtum aus dem Orienthandel bezogen. Doch als dieser nach dem Fall von Konstantinopel versiegte, investierten die genuesischen Patrizier ihre brachliegenden Kapitale auf den internationalen Finanzmärkten und suchten Anbindung an die neue atlantische Supermacht Spanien. Begünstigt durch die Lage am Tyrrhenischen Meer und durch die ligurischen Berge wie von einem Riegel vor dem italienischen Hinterland und seinen kriegerischen Verwerfungen geschützt, hatte Genua, anders als die übrigen italienischen Stadt- und Kleinstaaten, den Anschluss an das im 16. Jahrhundert vom Mittelmeer nach dem Atlantischen Ozean verlagerte weltpolitische Schwergewicht gefunden.
Die Stadt gehörte dem, der vom Meer kam. Das Naturtheater einer allmählich aus dem Wasser aufsteigenden und über steile Hügel und Vorgebirge emporschießenden Stadt versetzte die Schiffsreisenden der Vergangenheit in einen Rausch wie nur das Auftauchen eines Traumgesichts. So schilderte ein Reisender des Jahres 1798, der sich in Amsterdam eingeschifft und die Passage über Madrid und Cadiz genommen hatte, die morgendliche Ankunft im Hafen von Genua: „Das Feuer des Leuchtturms fing an zu verglimmen. Die Quais und die Masten der Schiffe wurden sichtbarer, die Gebirgsmassen traten aus der Dunkelheit hervor, und die Farbe des Meeres erhellte sich. Alle Gegenstände fingen an sich zu formen, und das ganze herrliche Amphitheater schien aus den Wellen emporzusteigen.“
Die Gegenprobe auf diese Sensation macht die berühmte Ansicht des Hafens von Genua bei Nacht von der Hand des Malers und Italienreisenden Max Beckmann aus dem Jahr 1927: Für das beinahe liturgische Schauspiel, wie unter einem schwarzen Nachthimmel das Panorama der Stadt sich ausbreitet, einem Bühnenbild gleich, und die aus dem tiefen Blaugrün des Meeres auftauchende Stadt gleichsam „auf der leuchtenden Wasseroberfläche zu schwimmen scheint“ (Hans Belting), mußte der Künstler freilich einen Logenplatz von der Höhe des Hotels Miramare einnehmen: Im nachtblauen Schatten war ausgeblendet, dass Genua seit dem Machtwechsel von der freien Stadtrepublik zu den Savoyern im 19. Jahrhundert sein Gesicht vom Meer abgewandt hatte und zu einem klaustrophobischen Ort geworden war. Seither war die größte zusammenhängende Altstadt des europäischen Kontinents durch Sperrgitter, Zäune und Zollschranken von ihrem natürlichen, mentalen und kulturellen Feld der Ausdehnung, von Hafen und Meer abgeschnitten, gleichsam weggesperrt worden. Die Fluchtlinien der schmalen, keine zwei Armlängen breiten Altstadtgassen fanden mithin keine Öffnungen, keine Verlängerungen und keine Ausdehnung zum Meer mehr.
„Nehmen wir uns das Meer zurück!“ Unter dieser Devise waren die Bewohner Genuas gegen Ende der 1980er Jahre endlich darangegangen, die drängendsten Probleme ihrer Stadt zu lösen. Vom Ende des Industriezeitalters war Genua früher und härter als andere europäische Städte getroffen worden. Das alte Hafenbecken war verödet, die großen Fabriken der Stahlindustrie, für die der Hafen im 19. Jahrhundert erweitert worden war, wurden stillgelegt, und Genua verlor ein Drittel seiner Einwohnerschaft.
Die kommunale Kehrtwende, getragen vom Bürgersinn einer erstarkenden Zivilgesellschaft und vom Planungsverbund mit dem intelligenten Team um den Architekten Renzo Piano – ein Genueser von Geburt –, sorgte für die Sanierung, Umnutzung und Neubebauung des alten Hafenviertels. Seither liegt die Stadt wieder am Meer, und hat direkt am Ufer die lichtdurchflutete Piazza und die Promenaden erhalten, die ihr bislang fehlten.
Im nächsten Schritt wurde die dahinter gelegene, völlig heruntergekommene und verwahrloste Altstadt so gründlich und behutsam wie an keinem anderen Ort saniert, nämlich unter Verhinderung explodierender Bodenpreise, so daß die Stammbewohnerschaft mitsamt dem bunten Völkchen außereuropäischer Immigranten, die hier Erwerb und Wohnstätte gefunden hatten, am Ende wieder in ihre Häuser zurückkehren konnten. Ebenerdig wurden kleine Läden für jeden Bedarf angesiedelt, deren Betreiber so international sind, dass sich viele Straßen und „caruggi“ der Altstadt seither in Bazaars verwandelt haben. Kaum einer wird sie passieren, ohne entweder ein Liedchen vor sich hin zu trällern oder doch zumindest einer unbestimmten Melodie im Ohr zu folgen. Vielleicht ist sie an Ort und Stelle selbst entstanden oder vom Wind hierher getragen worden.
„Keine Stadt ist lebendiger“, hatte wiederum Petrarca über Genua geschrieben, und dies liegt gewiss auch an ihrer Musik und ihren Liedern. Daß es dabei bis in die Gegenwart bleiben konnte, ist nicht zuletzt das Verdienst eines großartigen Musikers, Sängers, Poeten und Intellektuellen, der seit seinem allzu frühen Tod vor genau einem Vierteljahrhundert in Genua beinahe wie ein Heiliger verehrt wird: Im wiedergewonnen Alten Hafen führt die nach ihm benannte Fußgängermeile, vorbei an Renzo Pianos spektakulärem Aquarium, direkt auf die Mole zu: Frei nach einem seiner berühmtesten, im genuesischen Dialekt gesungenen Lieder, ist dieser moderne „Crêuza de Mä“ der Nachfahre jener einst so genannten, von den Höhen hinter der Stadt hinunter zum Meer führenden, gewundenen Wege: Eine weiße Marmorplatte trägt die Inschrift:
„VIA AL MARE FABRIZIO DE ANDRÉ
CANTAUTORE GENOVESE 1940-1999“.
Fabrizio Cristiano De André, von seinen Freunden und Verehrern „Faber“ gerufen, geboren 1940 in eine der vornehmsten, auf den Hügeln residierenden Familien der Stadt, war als Studienabbrecher in die schmutzige Altstadt hinabgestiegen, um in seinen Liedern vom Leben und Sterben der kleinen Leute zu erzählen, von Gemüsehändlern, Wanderarbeitern und Straßenverkäufern, von Huren und von allen auf der Via del Campo, einer der damals ärmsten Straßen der Stadt, oder in einem der dunklen Caruggi gleich um die Ecke Gestrandeten. Seine Lieder kleidete er allerdings nicht in sublime Worte, auch wenn er die höheren Register der Sprache nicht minder souverän, vorzugsweise ironisch bediente, sondern in die Alltagssprache der Menschen und bis in die Niederungen der Gosse. Und wenn De André, wie in dem berühmten Lied von der „Via del Campo“ von einer „puttana“ sang – ein Wort das sich für wohlerzogene Bürgersöhne gewiss nicht schickte –, so kam dies aus seinem Mund, getragen von einer unverwechselbaren Stimme als Ausdruck von Empathie und Verehrung daher, beinahe als eine Nobilitierung, die der Straßenhure die Würde als Frau und Mensch zurückgibt.
Dieses Verfahren des Liedermachers brachte Ende der rebellischen 1960er Jahre eine ganz neue Sprache in die populäre Musik, als ein Fanal, das die herrschende Schnulze von der Art des „Io, tu e le rose“, durch den „Canzone“ des „Cantautore“ ablöste. Vergleichbar dem Autorenfilmer der Nouvelle Vague, schrieb jener seine Lieder eigenhändig, dazu mit einer Poesie, die die hehrsten Gefühle fragiler Menschen an die Alltagserfahrungen vom gewöhnlichen Stolpern und Straucheln im Staub und Asphalt der Städte band. Es bildeten sich gleich mehrere Schulen des Canzone, deren wichtigste die genuesische war und blieb, die sich am französischen Chanson eines Georges Brassens und an den Traditionen der fahrenden Poeten und provençalischen Troubadours orientierte.
Als Bewohner einer maritimen Stadt ging Fabrizio De André gleich mehrere Schritte weiter und schrieb zunehmend Lieder und ganze Concept-Alben im einheimischen Dialekt, „zenéize“ genannt, dessen Idiome und Vokabeln vom maritimen Treibgut aller Mittelmeerwelten, von den Echos sämtlicher Handelswege und Hafenstädte, vor allem aber, unter Anpassung auch der musikalischen Klangkörper, vom Nachhall arabischer, türkischer und sephardischer Idiome zeugen. In den Souks und auf den Bazaren von Tunis, Tripolis, Jaffa oder Izmir wird dieser Dialekt noch heute besser verstanden als in Mailand, Turin oder Florenz. Gezeugt in den Pfützen der Altstadtgassen und geboren im Alten Hafenbecken als dem lebendigen Umschlagplatz von Waren und Dingen aus aller Welt, von Menschen aller Nationen und Zungen – oder wie es im Schlussvers jenes Loblieds auf eine Hure von der Via del Campo heißt:
„Dai diamanti non nasce niente
dal letame nascono i fior …”
(„… aus Diamanten wächst nichts / aus Mist wachsen die Blumen“). So wie zum Beispiel auch in dem Lied von der „Bocca di rosa“, über eine Frau, die wider alle Konventionen begehrt und mit dem Sänger die Freiheit teilt, „sich mit dem Wind zu bewegen“.
Volker Breidecker