Die Reise des Olivenbaums
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Immer, wenn die Geschichte oder die Geographie es notwendig machte, hat man versucht, dem Mittelmeerraum definierte Grenzen zu geben. Gemeinsamkeiten bei Klima, Topographie und Vegetation schienen für diesen Zweck geeignet, aber ihre Variabilität machte die gezogenen Grenzen unsicher. Aufgrund seiner Bedeutung in unberührten und wirtschaftlich genutzten Landschaften wurde so der Olivenbaum zum anerkanntesten Vertreter der geographischen Einheit und zu einem sichtbaren Beweis für die Konvergenz zwischen Natur und Kultur. Bedeutende Historiker definieren das Mittelmeer als das „Meer der Olivenhaine“. Aus welcher Sicht man auch die Landschaft betrachtet: Man begegnet in allen Zeiten und an allen Orten, in der Literatur und in der Kunst einem Olivenbaum. Die Kultivierung und Transformation des Baums wurde zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor, wichtig für ausgewogene Ökosysteme. Aufmerksame und neugierige Besucher können sich nicht den besonderen Landschaften entziehen, den ständigen Bezügen in der Kunst, und der weit verbreiteten kulinarischen Verwendung und den Vorteilen für die Gesundheit.
Olivenbäume können auf dem Boden kriechen, wie auf der Insel Pantelleria, wo sie vom Menschen gezähmt wurden, um dem Wind standzuhalten, oder sie können eine Höhe von 20 Metern erreichen, wie die Riesenbäume in den fruchtbaren Ebenen Kalabriens. Es können Büsche oder Bäume mit einem Stamm und einer Krone mit kegelförmigem Wuchs sein, wie die Olivenbäume in Calvinos „Der Baron auf den Bäumen“, oder jene Bäume, auf die die Jungen klettern, um Christus beim Einzug in Jerusalem zu begrüßen, wie in Giottos Fresko in der Cappella degli Scrovegni in Padua. Im mediterranen Licht zeigen die Bäume muskulöse Formen, abgerundete und gesammelte Kronen und knorrige Stämme, da ständig neue Sprossen aus den Knospen wachsen, die ohne Ordnung aus den holzigen Wucherungen entstehen. Diese verdicken den ursprünglichen Stamm und ersetzen ihn, was dem Baum die Illusion eines tausendjährigen Lebens verleiht. In Sizilien werden die Olivenbäume „Sarazenen“ genannt, was auf eine legendäre Antike anspielt, die das Maß nicht im menschlichen Leben, sondern in der Religion sah, schrieb Leonardo Sciascia. In der Regel findet man die Bäume nicht in den Ebenen. Sie bevorzugen die Hügellandschaften, um sich dem stauenden Grundwasser und den Frösten zu entziehen, unter denen sie leiden, jedoch nicht zugrunde gehen. Wenn es der Platz erlaubt, wachsen zwischen den Bäumen Getreide, Hülsenfrüchte und Gemüse. Oft werden Olivenbäume auch mit Weinstöcken oder Obstbäumen kombiniert. So entsteht eine reizende Landschaft mit gemischtem Anbau, bei dem Weinstöcke quasi mit den üppig früchtetragenden Bäumen vermählt sind. Ein französischer Geograph definierte daher diese als „eine der schönsten, und sicherlich eine der originellsten und komplexesten Landschaften der Welt“. Die Baumkronen, die sich schon bei geringstem Wind bewegen, filtern das Licht, und durch die Reihen auf den Terrassen, mit denen der Anbau auf den Hügeln und Bergen möglich ist, kann man Meer und Himmel gleichzeitig sehen. Die Blätter erscheinen silbrig, bedeckt mit einer weißen Daune, die das Grün der Unterseite grau färbt. Dadurch schillern die hellen Farben, und in den langen Sommern werden die Wasserverluste begrenzt. Der Olivenbaum ist das Wahrzeichen der griechischen und römischen Geschichte und ein Symbol der westlichen Kultur.
Aus diesem Grund nannte Linné den Baum Olea europaea, wobei die Bezeichnung über die korrekten bio-geographischen Grenzen hinausgeht, was somit auch Länder einschließt, die weit von denen entfernt sind, in denen der Baum ursprünglich verbreitet war und heute noch ist.