1526 hatte der französische König Franz I. ein gravierendes Imageproblem. Er war einige Monate zuvor nach einer verlorenen Schlacht in die Gefangenschaft Karls V., des spanischen Königs und Kaisers des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, geraten, und das war eine Blamage sondergleichen. Um das dadurch verlorene Prestige zurückzugewinnen, musste eine Propagandakampagne ohnegleichen lanciert werden, und dafür brauchte man überzeugungsmächtige Bilder. Eine militärische Niederlage in einen moralischen Sieg umzu-wandeln war eine schwierige Aufgabe. Dafür kamen nur Künstler aus Italien in Frage. Maler wie Masaccio und Piero della Francesca hatten vor einigen Jahrzehnten die Kunst entdeckt, dem menschlichen Auge räumliche Tiefe vorzutäuschen und damit virtuelle Welten zu erzeugen. Dadurch wurden sie zu Medienpionieren – und laut Leonardo da Vinci, der diese Techniken weiter verfeinerte, zu Herren über die menschliche Psyche: Worte verhallen wie Schall und Rauch, Bilder aber prägen, lenken und steuern die Emotionen, und Gefühle sind mächtiger als alle rationalen Einsichten. Darauf setzte auch Franz I., und zwar mit Erfolg. Er holte Rosso Fiorentino, einen Hauptvertreter des neuen, dramatisch bewegten Stils (den spätere Kunsthistoriker Renaissance-Manierismus tauften) nach Fontainebleau, und das Wunder geschah: Der junge Wilde und seine Equipe schufen dem königlichen Auftraggeber eine Galerie aus Bildern, Statuen und Stuck, die überaus lebendig und anschaulich, also durch und durch italienisch, und zugleich sehr französisch ausfiel: mit den Kühnheiten der neuen Ästhetik, doch beherrschter im Ausdruck und mit der Bot-schaft, dass der scheinbar so schmählich besiegte König, von seinem Volk als gerechter Schiedsrichter verehrt, der wahre Herrscher Europas war und bald auch als solcher anerkannt werden würde. Die Lehre, welche die europäischen Herrscher aus diesem Künstler-Transfer zogen, lautete: Italianità passt sich geschmeidig an fremde Biotope und ihre Bedürfnisse an und bleibt sich trotzdem treu. Von jetzt an stieg die Nachfrage nach italienischer Kunst ins Grenzenlose.
Für Leonardo kam auf der Skala seelischer Wirkungsmacht die Musik gleich nach der Malerei. Was eine neue Tonsprache zu leisten vermochte, die die menschlichen Affekte in ihrer ganzen Bandbreite, von schwärzester Melancholie bis zu grenzenloser Euphorie, nicht nur wiedergab, sondern verstärkte, ja anfachte und entfesselte, konnte Europa ab 1607 in den Opern Claudio Monteverdis mit unvergleichlicher Intensität erfahren. Kein Wunder also, dass diese Kombination aus dramatischer Dichtung, kunstvoll gesetzten Tönen und packendem Bühnengeschehen zu einem Exportschlager ohnegleichen wurde. Für mehr als ein Jahrhundert musste Musik für die höfische Gesellschaft jetzt das Gütesiegel der italianità aufweisen.
Um dieselbe Zeit, in der Monteverdi und der neapolitanische Aristokrat Carlo Gesualdo das Spektrum der menschlichen Gefühle in ebenso wohlklingende wie irritierend dissonante Ton-folgen fassten, entwickelte sich in Rom ein neuer Stil, den Berninis Apoll-und-Daphne-Plastik von 1625 ganz rein verkörpert. Diese «barocke» Kunst ist sinnlich und zugleich moralisch, dramatisch und zugleich übersichtlich, affektgeladen und zugleich beherrscht, pathetisch und zugleich narrativ, erhaben und zugleich voller Lust an der Komik alles Irdischen. Damit spiegelt sie ein Grundmotiv von italianità in erregend neuen Formen wider, nämlich die unverlierbare Grösse des Menschen, die sich in Schönheit und Individualität ausdrückt und selbst den Tod überdauert. Auch «Architekt» wird jetzt zum Synonym für «italienisch», wobei es keine Rolle spielt, ob die nach Madrid, Sankt Petersburg, London oder Skandinavien ausschwärmenden Baumeister und Ingenieure aus dem heute eidgenössischen Tessin oder dem «eigentlichen» Italien stammen. Als der dänische König Christian V. 1688 eine neue Festung braucht, die sein Herrschaftsgebiet mit Kanonen, aber auch mit barocker Imponier-Architektur gegen Süden verteidigt, fällt seine Wahl wie selbstverständlich auf Domenico Pelli. Dieser Architekt aus der Gegend von Lugano baut am Rande des Provinzstädtchens Rendsburg (in dem der Autor dieses Texts das Licht der Welt erblickte) nicht nur gewaltige Bastionen und eine neue Kirche, sondern auch für sich selbst einen repräsentativen Wohnsitz im reinsten Barockstil, mit majestätischen Türbögen und eindrucksvoller Fassade: ein italienischer Adelspalast mitten im fernen Schleswig-Holstein.
Das späte, leise welkende Ancien Regime kommt erst recht nicht ohne italienische Künstler aus. Als ein Würzburger Fürstbischof 1750 seine neue Residenz mit ruhmredigen Fresken schmücken möchte, holt er für ein fürstliches Honorar den Star-Maler Giovanni Battista Tiepolo in die mainfränkische Provinz. Und er bekommt viel für sein Geld: Bilder der Kontinente von unnachahmlicher grandezza, durchpulst von wahrhaft aristokratischer Selbstgewissheit und Ironie – italianità besteht kurz vor der Französischen Revolution darin, über die Widersprüche dieser Welt und damit auch über sich selbst mit aristokratischer Gelassenheit lachen zu können.
Mit dem Anbruch des bürgerlichen Zeitalters aber gerät italianità in die Krise. Der Kult des Hässlichen und Abseitigen, den die Romantik betreibt, war mit ihrer Auffassung von der unverlierbaren Würde des Menschen nicht vereinbar, ebenso wenig wie die Auflösung des Gegenständlichen in rein abstrakte Formen. Untergründig lebt sie in der «metaphysischen» Malerei eines Giorgio de Chirico dennoch fort. Ihre Wiederauferstehung in zeitgemässer Form ist jedenfalls dringend zu erhoffen, denn ohne italianità ist Europa nicht Europa.
Am 11. September 1797 ist Veroneses «Hochzeit zu Kana» von den Kommissären der napoleonischen Truppen geraubt und zusammen mit Werken von Giovanni Bellini, Tizian und anderen nach Paris übergeführt worden, um dem Louvre weiteren Glanz zu verleihen. Die Venezianer forderten nach dem Sturz Napoleons die Rückgabe des Gemäldes. Der Bildhauer Antonio Canova war beauftragt, sich 1815 in Paris für die Restitution der Kunstwerke einzusetzen, was er mit viel Geschick tat.
Im Fall von Veroneses Gemälde war er allerdings machtlos. Seinem engen Freund Leopoldo Cicognara, einem Multitalent und versierten Diplomaten, schrieb er nach Venedig, dass es in Bezug auf Veronese gar nie zu Verhandlungen gekommen sei. Der österreichische Kaiser Franz I., der nach dem Wiener Kongress erneut über Venetien herrschte, hatte nämlich unglücklicherweise das französische Angebot für einen Austausch von Veroneses Gemälde gegen ein unbedeutendes Werk von Charles Lebrun bereits angenommen, ohne sich zuvor mit Canova abgesprochen zu haben.
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