Mythos Olevano
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Karl Wilhelm Wach malte die Olevaneserin Candida Mampieri, ca. 1820, Öl auf Leinwand, in Privatbesitz
Eigentlich stand die Reise unter keinem guten Stern. Die Arbeit stockte, private Querelen trübten den Alltag. Und dann kam auch noch ein Gichtanfall in München hinzu, der ihm die Laune vermieste: Als Ludwig Tieck im Sommer 1805 nach Italien aufbricht, ist er ein kranker und depressiver Schriftsteller. Auch er kommt, ähnlich wie Goethe vor ihm, nach Italien, um wieder gesund zu werden. Aber während Goethe nur ein bisschen überarbeitet ist und eine Auszeit von den dringenden Staatsgeschäften am Weimarer Hof braucht, flattern bei Tieck die Nerven: „Müde bin ich angelangt, / In diese Bergeinsamkeit, / Umstarrt von nahen und fernen Felsen, / Vor mir die dunkle kleine Stadt, / Drüben am zackigen Gipfel / Hängend die Burg“, schreibt er in seinem Gedicht Olevano. Es sind eilig hingeworfene Zeilen auf seiner Reise in den Süden, die ihn über Innsbruck und Verona bis nach Rom führt. Doch erst hier im römischen Hinterland, in Olevano, scheint Tieck endlich zur Ruhe zu kommen. Wenn einer Italien nötig hat, dann er.
Als Tieck nach Olevano reiste, war das kleine Bergdorf, einen Tagesmarsch von Rom entfernt, gerade dabei, eine bedeutende Künstlerkolonie zu werden. Man kam nach Olevano, um die unberührte Natur, die unverbrauchten Motive zu finden. Man hatte sich an Rom satt gesehen, an all den klassischen Ansichten: Colosseum, Tivoli, Castel Sant’Angelo. In Olevano wartete eine bukolische Landschaft: mit Ziegen, Hirten, knorrigen Eichenwäldern und Fabelwesen, die direkt aus Ovids Metamorphosen stammen konnten. Es war etwas Magisches um diesen Ort und seine Menschen, die noch ganz eins mit der Natur und ihren sagenhaften Märchenfiguren zu sein schienen. Auch ich sah in Olevano einmal nachts einen Eber die Straße queren und hätte nicht sagen können, ob es sich dabei nicht um den Kalydonischen Eber handelte, der von Artemis ausgeschickt wurde, um die umliegenden Felder der Stadt Kalydon zu verwüsten. Mit einem Satz tauchte er auf und verschwand wieder in den Büschen. Ich wagte es nicht, mich zu rühren.
Zu den ersten Künstlern, die ihre Staffelei einpacken und sich in die Wildnis vorwagen, gehört um 1803 der österreichische Maler Joseph Anton Koch. Seine Skizzen sind es, die Olevano in den Künstlercafés in Rom schnell berühmt machen und auf einmal will einfach jeder dorthin. Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge reist 1806 an. Und schon bald setzt eine wahre Invasion ein: Niederländer, Amerikaner, Skandinavier, Deutsche, unter ihnen auch der Weimarer Maler Franz Theobald Horny und der Freiheitsdichter Friedrich Rückert, machen aus dem stillen Dörfchen Olevano in wenigen Jahrzehnten eine Pilgerstätte der europäischen Romantik, einen Ort des neuen Sehens. Die meisten von ihnen ziehen sich in die Einsamkeit der Sabiner Berge zurück, weil sie das einfache Leben suchen. Sie fliehen aus Rom, weil sie von der städtischen Zivilisation genug haben. Der höfischen Etikette, ihrer moralischen Verdorbenheit.
Wo eben noch das Erbe der Vergangenheit in Kirchen und Palästen, verschwenderischen Villen und Gärten auf den Blicken lastete, sind jetzt schroffe Felsen, Wälder und weite Macchia zu sehen. Nicht das Üppige, sondern das Karge, Struppige, etwas Raue fasziniert die Dichter und Maler auf ihren Streifzügen durch die Olivenhaine und Weinberge. Wenn Rom die Ewige Stadt ist, dann ist hier Ewige Natur. Unterschlupf finden sie in der Casa Baldi, einer auf einem Hügel gelegenen Herberge, unweit des centro storico. Von dort streunen sie bei Wind und Wetter aus, nach Palestrina, Genazzano oder Subiaco und saugen sich voll mit Bildern und Farben. „Ein Stück Erden, wie für den Maler besonders hingerichtet“, notiert der Maler Ludwig Richter im Jahr 1824. Und in der Tat: Wer einmal dort oben auf der steinernen Terrasse der Casa Baldi gestanden hat, kann verstehen, was damit gemeint ist: Bei klarem Wetter, wenn die Sonne genau hinters Wasser fällt, reicht der Blick über die Ebenen des Saccotals bis zum Tyrrhenischen Meer.
Alexander Kanoldt, Olevano, 1927, Öl auf Leinwand, Kunsthalle Karlsruhe
Das Hauptmotiv bilden aber die legendären Felsen der Serpentera, dem Schlangenhain oberhalb von Olevano, wo sich der gewundene Weg nach Civitella zieht, dem heutigen Bellegra. Hier finden die deutschen Romantiker ihren Modellwald: ein dichter Bestand alter Steineichen, wildwüchsige Wurzelgeflechte, abenteuerliche Fels- und Gesteinsformationen. Es ist ein Wald, wie er später in den Märchen der Brüder Grimm wiederauftaucht. Aber hier in Olevano liegt sein Ursprung. Von Olevano aus wird sein Bild verbreitet und nach Deutschland exportiert. Wann immer ein Kind die Geschichte von Hänsel und Gretel liest, die sich im Wald verirren, geht es auch ein Stückchen durch die Serpentara. Als man 1873 plant, den Wald abzuholzen und Eisenbahnschienen zu verlegen, wird von deutschen und italienischen Kunstfreunden eine Rettungsaktion gestartet. Der Wald bleibt. Und wer heute von der Villa Serpentara aus durch die alten Steineichen streift, kann gar nicht so schnell reagieren, wie er von Mücken zerstochen wird.
Rund 170 Jahre nach Tieck, Koch und all den anderen Romflüchtern kam ein anderer Weltleidender nach Olevano. Und auch wenn das Dorf inzwischen einen Busbahnhof, die Autostazione Zeppieri, hatte, die nachts heller leuchtete als der Mond hinter den Wolken, konnte auch er sich der Landschaft nicht entziehen, ihrem romantischen Sog. Die Rede ist von Rolf Dieter Brinkmann, dem enfant terrible der jungen deutschen Nachkriegsliteratur, der sich während seines Aufenthaltes in der Villa Massimo zum Jahreswechsel 1972/73 in der Casa Baldi einquartierte und dort dichtete: „Ein Autowrack, stehen gelassen am Ausgang des / Ortes, sinkt in den Boden zurück. Es scheint / wie eine Erinnerung. Vielleicht hast du / dort gesessen, Ludwig Tieck, und schriebst, In questa solitudine, bevor du vom Blatt Papier / aufgeblickt hast.“
Ausgerechnet der etwas biedere Tieck, der seine letzten Lebensjahre als loyaler Dichterdiener am Hof des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. verbrachte, wird für den Subkultur-Avantgardisten Brinkmann in Italien zum Role Model. Für Brinkmann war Tieck der „beste Typ“, der Olevano jemals besucht hatte. Er galt ihm als widerspenstiger Gefährte, keiner von den Üblichen, von den Hurra-Reisenden, von den vielen Goethes, die sich immer etwas zu viel auf ihre italianità eingebildet hatten. An die Stelle der Bergeinsamkeit mit Vollmond und scherzenden Mädchenstimmen tritt die Trostlosigkeit der zum Schrottplatz verkommenen Landschaft.
Es ist aber nicht nur die angekratzte Laune, die beide Dichter miteinander verbindet. Tiecks italienische Gelegenheitsgedichte sind fotografische Momentaufnahmen, es sind Skizzen, flüchtige Andenken, „Blicke“, die auch Rolf Dieter Brinkmann in seinem Band ‚Rom, Blicke‘ in die Landschaft wirft: „Rauch! Mindestens neun rauchende, qualmende Herbstfeuer verteilt in der Landschaft unter mir, südöstlich vom Ort, weit hinter der Ortschaft.“ Auch Brinkmann schreibt sich in Olevano in eine Art Einfachheit vor, er will den Ballast der Vergangenheit loswerden: „Wir tasten herum in geistigen Ruinen, nachdem wir in wirklichen Ruinen herumgetastet haben und in Bunkern aufgewachsen sind und mit Bombensplittern gespielt haben und darauf nach Wertmaßstäben eines Krüppellebens und von Krüppeln erzogen worden sind – und nun kommt der Dämmer von Stilisierungen in Filmen, Büchern, Kunst, Erkennen – neuer Schrott.“
Und Tieck? Auf die Reisegedichte eines Kranken folgte der Zyklus Rückkehr des Genesenden. Es hatte also geklappt, mal wieder: Italien hatte seine Wirkung nicht verfehlt, zumindest wollte Tieck das, sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Goethes Italienischer Reise, seine Leser glauben lassen. Er selbst war da schon wieder von einer neuen Krankheitsphase gezeichnet. Er konnte die Vergangenheit nicht einfach abschütteln, loswerden. „So weich, so warm, so hell / War noch keine Sommernacht, / Kein Schlummer so süß, / Keine Störung des Schlafes / Je so erfreulich“, schrieb Tieck in seinem Olevano-Gedicht. Auch ich machte mich in den drei Monaten meines Stipendienaufenthaltes in der Casa Baldi auf die Suche nach ihm, dem Wrack, wie er dort im Café San Rocco saß und schrieb. Er konnte nicht weit sein – in questa solitudine.
Peter Neumann