Toskana-Friktion: Energiegewinn und Reibungsverluste
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Die Barockvilla Cetinale mit einem weitläufigen toscanischen Garten wurde im 17. Jahrhundert vom Architekten Carlo Fontana als Sommerresidenz für die Familie Chigi erbaut, aus der 1655 Papst Alexander VII. hervorging. Das Anwesen befindet sich 10 Kilometer westlich von Siena.
Entdeckt haben die Toskana nicht die Deutschen, sondern die Engländer. Das muss ihnen der Neid lassen, wie die Österreicher sagen. Es war spät im 19. Jahrhundert, Tre- und Quattrocento kamen sehr in Mode, und die Engländer sahen, dass die Landschaft der Toskana genauso aussah wie jene auf den kleinen Bildchen der toskanischen Altarpredellen, wo Heilige zwischen Feldern und Hügeln ihre Wunder vollbringen und Martyrien durchleiden. In der Ferne leuchten vor goldenem Himmel grün-gelbe Städtchen und rosafarbene, von schwarzen Zypressen umstandene Kastelle mit hohen Türmen und vielen Zinnen. Die Deutschen sahen so etwas lange nicht. Sie hingen zu sehr an ihrem Goethe und mit diesem an Rom und Neapel. Die Engländer dagegen, nachdem sie zunächst die Altarbilder gekauft hatten, kauften nun auch die Kastelle, die darauf zu sehen waren, nur in echt. Einige ließen sie auch völlig neu bauen, genauso wie auf den Trecento-Bildern, mit hohen Türmen, Zugbrücken und vielen Zinnen. Wo toskanische Bauern in ihrer Unwissenheit Weizen und Oliven gepflanzt hatten, wurden nun zwar ertraglose, aber ikonographisch korrekte Early-Renaissance-Zypressen gesetzt – tausende, hunderttausende. Der toskanische Zypressenhain ist eine englische Erfindung, Florenz ist davon umzingelt.
Die Deutschen brauchten eine Weile, bis sie begriffen. Dann aber machten sie ihre Sache gut und gründlich. Schon 1901 waren sie, die Engländer überholend, Toskana-Sehnsuchts-Weltmeister. Zunächst begannen Böcklin und Hans von Marées etwas melancholisch-trübe Toskana-Bilder mit dunklen Zypressen zu malen. Deutsche Kunsthistoriker wie Aby Warburg und Heinrich Brockhaus gründeten in Florenz das Kunsthistorische Institut. Die Frührenaissance der Florentiner Bankiers und Kaufleute gefiel den kunsthistorischen Kaufmanns- und Bankierssöhnen aus Hamburg und Berlin. Desiderio da Settignano! Schließlich kam der Dichter Rudolf Borchardt, der Rom nie gemocht hatte, und entdeckte für die Deutschen das toskanische Landleben auf der Villa, wenn auch nur bei Lucca, da bei Florenz die Engländer längst die Preise verdorben hatten. Jeder, der heute auch nur einen Rustico mit drei Olivenbäumen sein Eigen nennt, sollte Borchardts wundervollen Aufsatz gleichen Titels von 1907 lesen. Hier liegen die theoretischen Wurzeln der Toskana-Fraktion, dies ist ihr toskanisches Manifest. Der Deutsche, vom Gemüt her eher Pfahlbürger, erlebt in der Villa – oder eben im Rustico – die Transformation zum Landedelmann, oder, wie Borchardt es ausdrückte, zum lateinischen Herrn, auf uralten Rechten und Gemarkungen sitzend und auf sein Eigen blickend. Der alte Antonio vom benachbarten Meierhof dient ihm in Abwesenheit als Statthalter und Landverweser, er erklärt ihm die amtliche Post, vertreibt die Siebenschläfer aus dem Dachstuhl und schneidet die Olivenbäume.
Und es zeigte sich, dass die Deutschen und die Toskana füreinander geradezu geschaffen waren. Anders als das zugige Latium mit seinen mongolischen Steppen vermittelt diese so zierlich gedrechselte Landschaft Ruhe und Geborgenheit, entspricht dem Bedürfnis nach überschaubaren Verhältnissen und gemütlicher Häuslichkeit. Das gilt auch für die toskanische Küche, gehobene Hausmannskost im Grunde, wo man vor großen Überraschungen sicher ist und um eine Mindestration an Kalorien, Kohlenhydraten und tierischem Eiweiß nicht bangen muss. Olivenöl auf Brot gibt es zu jeder Gelegenheit in unbegrenzten Mengen, die Toskaner haben sich an diese fremde Sitte gewöhnt. Auch seinem strukturellen Alkoholismus kann der Deutsche – darin dem Engländer verwandt – in der sublimierten Gestalt des Weinkenners ungestört nachgehen, Enotheken und Weingüter öffnen ihm Tür und Tor schon am Vormittag. Und überall steht ein schön gemauerter Kamin, wo man ein gemütliches Feuerchen entzünden und mit einem Gläschen Wein davorsitzen kann. Das Holz hat der gute Antonio besorgt mit seinem Fiat Panda.
Selten nur wird der Blick durch lockende Fernen beunruhigt wie in Rom, wo der Monte Circeo an Goethe und Griechenland gemahnt. Hier sieht man selten weiter, als man in ein paar Stunden gehen kann, mit Rucksack und Wanderschuhen. Wandern ist molto tedesco, den Toskanern graut es davor, aber sie legen den Deutschen schön markierte Wege durch Hügel und Wälder an, auf denen dann männliche Landeskinder mit Motocross-Rädern herumfahren. Die Toskana ist eine herbstliche Landschaft, wo geerntet, gejagt, gekocht und gekeltert wird. Zwischen den violetten Hügeln steigen die dünnen Rauchsäulen duftender Rebholzfeuer in den kühlen Nachmittagshimmel. Das Knallen der Jagdflinten tief in den gelblichen Eichenwäldern, deren Hänge durchwühlt sind vom Rüssel des Wildschweins. Der Fasan fliegt auf aus dem golden besonnten Ginster mit knatterndem Flügelschlag. Ein modernder Steinpilz duftet am Wegrand zwischen den feuchten Farnen. Kastanien unter dem raschelnden Laub auf dem Hohlweg. Gedanken ans Abendessen.
Nittardi – ein mittelalterlicher Turm im Herzen des Chianti Classico – Foto © Jörg Schellschmidt
Über allem und in allem aber das rechte Maß, diese schwer zu beschreibende, Menschen und Dingen innewohnende Kultur und Gesittung. Kultur und Gesittung – das sind, Sie haben Recht, altbackene Worte, doch finde ich keine besseren. Alles ist hier ländlich und bäuerlich, nichts aber bäurisch und grob. Eine verfeinerte Gehobenheit prägt die Verhältnisse, die großen wie die kleinen. Der Olivenbauer ist kein Kartoffelbauer, der Winzer kein Schweinezüchter. Diese signorile Bukolik hat historische Wurzeln. Die Vorfahren der toskanischen Bauern waren keine Tagelöhner, wie sie auf den Latifundien Latiums und Süditaliens ihr kümmerlich-rechtloses Leben fristeten, abhängig von den Launen der allmächtigen Gutsverwalter, den Vorläufern der Mafia. Sie waren, wo nicht selbst schon Landbesitzer, mezzadri, also Halb-Pächter, die dem Grundherrn die Hälfte der Erträge abzuliefern hatten, dafür aber selbst Herren waren auf dem gepachteten Land, oft über Generationen hinweg. Die mezzadria ist als Rechtsform uralt, hat antike Wurzeln, sorgte für Stabilität, Sicherheit und Würde. Die meisten haben das Gepachtete dann irgendwann gekauft. Es ist wohl diese Ausstrahlung alteingesessenen proletarischen Herrentums, das die Toskana für eine bestimmte Generation deutscher Sozialdemokraten zum Gelobten Land hat werden lassen. Kommunistisch wählende Grundbesitzer, die keine Currywurst essen, guten Wein trinken und ihren Hund Argo nennen wie eins der alte Odysseus!
Vor allem aber schuf die mezzadria jene Kultur des ökonomischen Eigeninteresses, das in Jahrzehnten und Jahrhunderten hervorgebracht hat, was uns heute so bezaubert, die toskanische Kulturlandschaft nämlich, ein Ergebnis des zähen Festhaltens an einem Stück Scholle und dessen unverdrossener Bewirtschaftung. Äcker und Felder, abgerungen dem Wald und Gestrüpp, wurden penibel von Steinen befreit, mit Mauern aus eben jenen Steinen terrassiert und umzogen, gepflügt und gebessert Jahr für Jahr, bepflanzt mit der langsam wachsenden Olive und dem anspruchsvoll launischen Rebstock. Von Geduld, Wille und Wissen zeugen auch Häuser, Höfe, Villen und Borghi, mit sicherer Kenntnis gesetzt an die besten Plätze und fortgebaut über die Zeiten hinweg, sich verschließend dem Wind und der Hitze, den Blick aber öffnend ins Rund, überschauend Felder und Wege, das Besitztum wachsam im Auge. Die Toskaner sparen nicht und sind doch sparsam, südliche Schwaben, veredelte Preußen. Karg sind selbst die Herrenhäuser bei all ihrer Größe, großgedacht aber schmucklos, zwei Säulen in den Bögen der Loggia, ein steinerner Fenstersims, ein riesiges Uhrwerk vielleicht auf einem Türmchen im Dachstuhl, die alte Sonnenuhr an der verwitterten Mauer ersetzend, sonst nichts. Karg auch der Garten. Bröckelnde Stufen aus pietra serena, im Geviert von schütterem Buchs und moosigem Kies ein schief verwitterter orcio aus imprunetanischem Ton, der Sprung von rostigem Draht gehalten. Drei, vier steinalte Zypressen, in denen die Finken und Stare nisten.
Die Toskana und die Deutschen, das war eine späte Liebe, bei der mir immer auch ein wenig bange ist. Denn eigentlich ist die Toskana mit all den dort sitzenden Deutschen eine Utopie, wie jene idyllischen Trecento-Bilder mit den Einsiedlermönchen, etwas eher Unwahrscheinliches, das es so eigentlich gar nicht geben kann – oder das es schon gar nicht mehr gibt. Man erzählt sich, dass die Kinder der Toskana-Deutschen lieber zum Tauchen nach Australien fahren, und nicht immer in den gleichen Rustico. Aber auch die Töchter und Söhne von Antonio, der unsere Olivenbäume schnitt und das Holz brachte und der nun auf dem kleinen Friedhof liegt draußen vor dem Tore, wollen sein wie andere auch, wollen haben, was alle haben: Sportstätten und centri commerciali, Outlets und Autohäuser, Autos natürlich, viele und große und schnelle, ohne Kratzer und Beulen, Schnellstraßen, Tankstellen, Parkplätze und den ganzen Rest. Kann man es ihnen verdenken? Wer noch nie bei IKEA war, werfe den ersten Stein, trinke vor dem Werfen aber noch ein großes Glas Riserva, Antonio zu Ehren.
Golo Maurer