Als der Maler Giovanni Segantini am 28. September 1899 auf dem Schafberg über Pontresina im Engadin starb, kam eine der eindrucksvollsten Künstlerkarrieren im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende.
Damals blickte die Kunstwelt nach Frankreich, wo im schnellen Wechsel der Stile und Ansprüche die Moderne sich durchsetzte, die wir heute in den Museen der Welt bewundern. Auch Segantini hatte mit Paris geliebäugelt. Den reichen Hoteliers im Engadin, die gut an dem immer stärker werdenden Tourismus verdienten, hatte er vorgeschlagen, für die Weltausstellung 1900 in Paris einen Pavillon aufzubauen, der die einmalige Schönheit dieses Landstrichs dokumentieren sollte.
Der etwas größenwahnsinnige Plan sah vor, dass Segantini auf einem Panoramabild – wie sie damals an vielen Orten Europas entstanden – die unvergängliche Schönheit der Schweizer Alpen darstellen sollte, während im Inneren des Gebäudes aus einem Hügel aus Originalsteinen des Engadin das Plätschern des klaren Wassers eines Bergquells zu hören wäre. In seiner Begeisterung für dieses Projekt, das in der Geschichte der utopischen Architektur einen Ehrenplatz erhalten hätte, ging Segantini so weit, dass er den Vorschlag machte, die Gebäude rund um die Place Trocadéro abreissen zu lassen, um dem Engadin-Pavillon unweit des Eiffelturms einen prominenten Ort in der Topografie der Weltstadt zu sichern. Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, wie sie Walter Benjamin genannt hat, die im Sekundentakt neue Moden, Stile, und Lebensgewohnheiten hervorbrachte, hätte sich mit diesem Tempel für das Ewige schmücken können: die erhabene, unzerstörbare Natur sollte hier gewissermassen zu sich selber kommen. Aber aus der hochfliegenden Idee sollte nichts werden. Die Hoteliers, die am Anfang mit Begeisterung dem hypertrophen Plan zustimmten, kriegten zunehmend kalte Füße. Wer ins Engadin wollte, musste weiterhin den beschwerlichen Weg nehmen.
Das Leben dieses Malers ist auch ohne Paris-Pavillon bedeutend genug, um immer wieder erzählt zu werden; und seine Bilder – rund 400, inklusive Zeichnungen – sind in den großen Museen der Welt bestaunte Objekte geblieben, obwohl der Name Segantini im Kunstmarkt sehr selten auftaucht: wer eines seiner Bilder besitzt, trennt sich offenbar nicht von ihm.
Dabei war diese Künstlerexistenz eigentlich zum Scheitern verurteilt gewesen, zu viele große Brocken lagen auf dem kurzen Lebensweg: Geboren wurde Giovanni Segantini in Arco, nördlich des Lago di Garda, das damals noch zum Kaiserreich Österreich gehörte (er war ursprünglich also österreichischer Staatsbürger, sprach aber kein Deutsch); die Mutter, die aus dem Fleimstal stammte, verstarb kurz nach Giovannis Geburt, der Vater, ein Alkoholiker, zog auf der Suche nach Arbeit weiter und liess den Buben bei einer Stiefschwester in Mailand, die ihrerseits zusehen musste, wie sie über die Runden kam: sie sperrte Giovanni kurzerhand in ihrem Zimmer ein, wenn sie morgens zur Arbeit ging, der Junge kletterte aus der Dachluke und machte sich auf den Weg, wurde eingefangen und in eine Erziehungsanstalt gebracht (die etwa so gewesen sein muss, wie man sich das vorstellt), er konnte weder lesen noch schreiben. Mit siebzehn Jahren holte ihn ein entfernter Onkel, der als Plakatmaler sein Geld verdiente, in seine Werkstattt, und mit seinem ersten verdienten Geld belegte Giovanni Kurse in der Brera, der Mailänder Kunstakademie: für ihn schien also von Anfang an klar zu sein, dass er Künstler werden wollte.
Gleich mit seiner ersten Jahrgangsarbeit an der Brera erregte der 21-jährige junge Maler Aufsehen: sein düsteres Bild vom Chorgestühl Sant’Antonio, in das ein gleissender Strahl Sonnenlicht fällt, war so perfekt gemalt, dass sich die Galerie Vittore und Alberto Grubicy dafür interessierte: ein Glücksfall für Segantini, denn Vittore wurde sein lebenslanger Mentor (und durfte sogar Segantinis Bilder signieren), der die Werke von der Staffelei weg auf die großen Weltausstellungen brachte, wo sie in alle Welt verkauft wurden. Und ein Jahr später, das nächste Mirakel in diesem Künstlerleben, verliebt sich der inzwischen 22-jährige Maler in die 17-jährige Luigia Bugatti, genannt Bice, mit der er – unverheiratet, weil staatenlos – bis zu seinem Tod zusammenlebt.
Mit ihr hat er drei Söhne und eine Tochter, mit ihr – man staunt, was damals alles möglich war – zieht er zunächst in die Brianza (wo die erste Fassung seines berühmten Bildes “Ave Maria auf der Überfahrt” entsteht), von dort nach Savognin im Oberhalbstein und schliesslich 1894 nach Maloja, wo er mit der Familie – zu der inzwischen noch Barbara Uffer gehört, die wir von den Bildern als “Magd im blauen Kleid” kennen – ein Haus mit Atelier bewohnt, das bis heute existiert (und zu besichtigen ist): er war 35 Jahre alt, konnte inzwischen lesen und schreiben, war der letzte berühmte Künstler aus Italien im 19. Jahrhundert, der in der ganzen Welt bewundert wurde, aber immer ein Einzelgänger blieb, der die Gesellschaft mied. Er war auf dem höchsten Punkt seiner Lieblingslandschaft angekommen, den er nur im Winter verliess, wenn es zu kalt wurde – dann ging er nach Soglio ins Bergell (das 20 Jahre nach ihm auch Rilke aufsuchte), das an der Strasse nach Chiavenna liegt, wo auch die mit den Segantinis befreundete Künstlerfamilie Giacometti lebte. In Maloja verfeinerte er seine Maltechnik (den Divisionismus), die – anders als der gleichzeitig entstandene Pointilismus – nicht aus unzähligen, verschieden dicht gesetzten Farb-Punkten besteht, sondern aus Farbwülsten, die Segantini – um noch mehr Tiefe zu erreichen – gelegentlich mit Goldstaub verband. Auf diese Weise hat er die “reine” Luft gemalt, die durchsichtige Atmosphäre auf der Hochebene, wo Mensch und Tier angesichts der Ewigkeit der Bergzüge ihr Leben nach den Jahreszeiten richten. Es liegt nahe, Segantini mit den lebensreformerischen Aktivitäten in Verbindung zu bringen, die das damals sich durchsetzende Industriezeitalter mit allen bis heute bedrohlichen Kollateralschäden begleitete, mit dem Jugendstil, den Ideen von Rudolf Steiner und all den anderen Versuchen, Mensch und Welt vor den selbstverschuldeten Entfremdungstendenzen zu bewahren – aber er bleibt doch der Sonderling, der sich keiner Gruppe, Schule oder Ideologie zurechnen lassen wollte. Selbst Nietzsche, der nur wenige Kilometer entfernt in Sils seine Tage verbrachte und dessen Zarathustra Segantini gelesen hatte, konnte ihn nicht zum Verbündeten zählen. Es bleibt aber kunsthistorisch interessant, dass die italienischen Futuristen, die die gesamte Geschichte der Kunst auf den Kopf stellen wollten, die Arbeit des “Alten vom Berge” schätzten; als einer der wenigen Vorläufer hatte er etwas erkannt, das dann in ihren Manifesten ausformuliert wurde: die Umkrempelung der Welt und ihrer falschen Moral.
Aber das hat Segantini nicht mehr erlebt. Und auch wir, die wir seine Bilder lieben, sehen in ihm weder einen Vorbereiter noch einen Nachahmer. Jeder, der sich in seine Malerei vertieft, spürt, dass es nicht nur darum ging, seine Menschen und seine Tiere vor der Bergkulisse abzubilden, sondern immer um das Große Ganze: la vita, la natura, la morte.
Einer, auf den man im Gedenken an Segantini nicht gekommen wäre, hat seine letzten Worte gehört: Voglio vedere le mie montagne.
Es war Joseph Beuys, der in den siebziger Jahren bei einem Urlaub Waldhaus in Sils auf Segantinis Spuren stiess und sich anregen liess zu einer faszinierenden Installation: Voglio vedere i miei montagne (wir wissen nicht, ob Beuys die Fehler in der Schreibweise beabsichtigt hat), die heute in Eindhoven zu besichtigen ist. Und in diesem Jahr gibt es in Neapel eine Hommage für Beuys von Anselm Kiefer, die unter dem (in diesem Fall richtig geschriebenen) Titel: Voglio vedere le mie montagne gezeigt wird: Von Kiefer über Beuys zurück zu Segantini aus Arco: Arte ed amore vincono il tempo.