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In eigener Sache

In eigener Sache 2024

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Meine Generation war die erste, die auf Italienisch erzogen wurde. Um mich herum herrschten Regionalsprachen: meine Großmutter sprach Ladinisch, meine Großtante Zimbrisch, meine Mutter Venezianisch, und beim Skifahren, wenige Kilometer von zuhause, vernahm ich die fremden Klänge der Südtiroler. Es waren die Mundarten des Volkes, der Handwerker, der Gefühle. Gassenlatein war die zweite Sprache, auch Kinder und Ungebildete verwendeten sie im täglichen Gespräch mit Gott. Je näher zur Grenze im Norden, desto bestimmter die katholische Herrschaft. Priester und Nonnen wachten darüber, dass die protestantische Welle nicht über die Alpen kam. Beim sommerlichen Bergurlaub in Danta di Cadore packten wir immer lange Strümpfe und Strumpfhalter, auch für die kleinen Brüder, die kurze Hosen trugen, ein. Nackte Beine in der Kirche waren auch bei Kindern verboten. Der Pfarrer stand streng am Eingang und kontrollierte.

Mit achtzehn zog ich für das Studium nach Florenz und kam gleich am ersten Tag mit dem Hochitalienisch in Berührung. Der Professor rief meinen Namen beim Appell auf, ich ging kerzengerade hoch und gab nicht wie die anderen ein träges „Presente – Anwesend“ von mir, sondern wie bei uns im Norden üblich: „Comandi – Zu Befehl!“. Hätte ich das nur nicht getan. Der Professor ärgerte sich dermaßen über die unterwürfige Erziehung der Veneti, dass ich dachte, mein erster Tag an der Uni wäre zugleich mein letzter.
In der Toscana entdeckte ich den Reichtum des modernen Italienischen, das auf dem Griechischen und Lateinischen gründete. Es beeindruckte mich, dass sogar Bauern und Handwerker die Sprache beherrschten, und zwar mit einem Wortschatz, den wir Nordländer nur bestaunen konnten. Es war eine klare, kristalline, rigorose Sprache, die knapp und treffend beschreiben und urteilen konnte. Es war das Hochitalienische, eine kulturübergreifende Sprache, die Sitten, Mentalitäten, Gastronomie und Musik aus verschiedenen Ländern einschloss.
Jahrhundertelang streiften die unterschiedlichsten Völker durch Italien: die Österreicher im Osten, die Franzosen im Westen, die Byzantiner, Araber, Spanier im Süden, einzig fest in der Mitte der mächtige Vatikan-Staat. Alle nahmen und manche brachten, darunter Artischocken, Spinat, Orangen, Mais, Auberginen, Tomaten, welche mit der furiosen Fantasie der Italiener zum Alphabet der italienischen Küche wurden. Das heute gängige Hochitalienische etablierte sich im ganzen Land erst in den sechziger Jahren mit dem Aufmarsch des Fernsehens. Dreizehn Regionalsprachen wurden offiziell anerkannt, die vielen anderen zu zweitklassigen Dialekten degradiert. In der Tat wurde ein Agrarland rasch in einen Industriestaat verwandelt, Felder und Esel durch Fabriken und Autos ersetzt. Jene, besonders im Süden, die vom Wirtschaftswunder vergessen wurden, wanderten aus und in ihren verbeulten Koffern brachten sie die vertrauten Lebensmittel mit, Tomaten, Basilikum, Mozzarella und in ihren Herzen die Dialekte, die ihre verlorene Welt darstellten.
Als ich in den siebziger Jahren die Ostküste Australiens bereiste, dachte ich, ich sei in den Abruzzen. Eine massive Auswanderung von einzelnen Ortschaften hatte die Gegend in ein kleines Italien verwandelt. Alle waren mitgekommen, sogar der Priester. Es hingen Schilder mit Panificio, Tabacchi, Alimentari, und die Frau, bei der ich wohnte, fragte mich, mit der Hand drei gigantische Kühlschränke in ihrer Küche streichelnd, ob ich nicht einen ihrer drei Söhne heiraten wollte. Ihr Italien war das Land geblieben, aus dem sie auswandern musste. Doch die Sprache und Kultur, die ihr Italien verkörperten, existierten so nicht mehr. Es schien mir fast, wir seien zwar beide Italiener, aber aus unterschiedlichen Epochen. Erst wenn ein Auswanderer zurückkehrt, merkt er, dass sich alles verändert hat, denn Kultur ist nicht starr, sondern in ständiger Wandlung.

Thomas Manns „Sprache der Engel“, ist ein Gesang der Diversität, ein Lied verschiedener kleiner Heimaten. Dieses Babel verflüchtigt sich um den Glockenturm jeder Gemeinde, der Familie, der Suche nach dem Schönen und dem Guten, der ständigen Erneuerung, der Lust am Leben, unter dem blauen Himmel und der schillernden Sonne, die alle zusammenbringt.

 

Stefania Canali

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