In eigener Sache 2017
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Der Baedeker, der glorreiche rote Reiseführer mit der goldgeprägten Aufschrift, begleitet seit dem 19. Jahrhundert Scharen von kultur- und sonnenhungrigen Italienreisendenden.
Was Venedig betrifft, hat er seine Vormachtstellung mittlerweile jedoch abgeben müssen. Seit schon einem Vierteljahrhundert erscheint jahrein jahraus eine Venedig-Bibel, deren Auflage sich in Millionenhöhe bewegt. Der als Roman verkleidete Stadtführer über das „wahre Venedig“ erscheint inzwischen in 35 Sprachen, nur in Italien, dem Land, in dem die Handlung spielt, erscheint er komischerweise nicht: die Rede ist von Donna Leon und ihren venezianischen Krimis.
Auf Wunsch der Autorin heißt es offiziell: die 75-jährige sei scheu und möchte in Venedig, wo sie auch lebt, weiterhin unerkannt bleiben. Böse Stimmen behaupten hingegen, der wahre Grund sei ein anderer. Nicht der Verlust ihrer Privatsphäre, sondern unverhohlene Kritik verstöre sie. Bei der Menge an Darstellungen, Menschen und Situationen der Lagunenstadt, die ihre Krimis füllen, wäre sie den ungemütlichen Fragen der Ortsansässigen ausgesetzt, die voraussichtlich nicht mit ihrem Klischeebild übereinstimmen. Aber was sind schon 55.000 Venezianer gegen die jährlich 30 Millionen Touristen, die zum Teil auch dank ihrer Beschreibungen in die Stadt strömen?
Vor kurzem saß ich in meinem Lieblings-restaurant auf der Zattere. Es war einer dieser strahlenden Tage, an denen man Lust verspürt, die ganze Welt zu umarmen. Neben mir genoss der Direktor eines renommierten Hotels eine Portion spaghetti e vongole. Die Sonne stand hoch, seine Brillengläser waren schwarz. Auf der uns gegenüberliegenden Kanalseite ragte majestätisch die Redentore-Basilika empor. Dahinter versteckt, der großartige Garten von Hundertwasser, gesäumt von alten Steinen und Bäumen. Die Ruhe wurde von einer Damengruppe gestört, die aus gebührender Entfernung meinen gutaussehenden Nachbarn anvisierten. Das Buch in ihrer Hand verriet sie. Natürlich, die Venedig-Bibel von Donna Leon. Sie tuschelten wild miteinander, ohne ihr nichtsahnendes Opfer aus den Augen zu lassen. Konnte das tatsächlich der berühmte Kommissar Brunetti sein? In Fleisch und Blut? Nein, er war es nicht, aber er sah verdammt gut aus.
Die Serenissima hat in ihrer 2000 Jahre alten Geschichte so viel gesehen, dass sie alles mit Lässigkeit erduldet. Zudem ist nichts Neues daran: lange vor dem Phänomen Donna Leon haben Menschen von Venedig profitiert, die wiederum durch ihre Begabungen den Ruhm der Stadt verewigten. Venedig nahm die Welt offen auf: Dichtern und Malern, Denkern und Kaufleuten, Politikern und Prälaten, all jenen bot sie die besten Bedingungen, um Kunst und Geschäfte zu machen und nun sind wir dankbare Bewunderer dieses hinterlassenen Reichtums.
Heute heiraten Promis in Venedig und Werbungen jeder Art finden hier die ideale Kulisse. Die Stadt, die einst das Zentrum der Welt war – bis ins 17. Jahrhundert lebten hier mehr Menschen als in Paris oder London – ist heute schwer lädiert. Ihre fragile Schönheit bröckelt. Ihr starker Charakter allerdings hält noch. Auf den ersten Blick scheint die Serenissima in unserer schnelllebigen Welt keinen Platz mehr zu haben. Doch gerade inmitten dieses Tumults bleibt Venedig ein Hafen der wahren Gefühle, ein Kleinod der menschlichen Werte. Trotz all ihrer bekannten Schwächen avanciert hier heute eine neue Generation, die, anders als die Eltern, schafft anstatt zu resignieren. Sie besteht aus der Millenium-Jugend, die sich weigert, in einer Selfie-Stadt zu wohnen und nicht daran denkt, aufs Festland zu flüchten. Mit Stolz und Entschlossenheit beleben sie längst todgeweihte Berufe wieder, erfinden neue Arbeitsnischen, bewirtschaften verlassene Felder auf Laguneninseln, entdecken vergessene Fischerreviere und restaurieren verwahrloste Kloster. Sie trotzen der Verlockung des leichten Geldes und des Massentourismus. Statt der Gier gehen sie der Güte ihrer Stadt nach. Mit Vereinen wie Closer, Gruppo 25 Aprile oder Venessia kämpfen sie nicht nur für ihre eigene Zukunft, sondern die ihrer Stadt. Und welch großzügige Stadt sie ist. Nicht Google Maps, sondern der Kompass des Herzens führt uns immer wieder zu ihr.
Und Donna Leon? Sie geht nun, wie man hört, einen anderen Weg und zieht in die Schweiz um. Werden wir vielleicht bald einem Kommissar Brünettli bei seinen Ermittlungen folgen?
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