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Italien kommt nach Frankfurt – zum zweiten Mal

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Italien kommt nach Frankfurt – zum zweiten Mal

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Friedrich Overbeck, Italia und Germania 1811–28, Öl auf Leinwand, Neue Pinakothek, Dresden

Im Oktober wird Italien der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein und nicht nur seine vielfältigen Literaturen, sondern auch zahlreiche andere Seiten seiner großen Kultur in den Messehallen vorstellen. Das letzte Mal war das 1988 der Fall, also vor 35 Jahren oder ein Jahr vor dem Fall der Mauer, der zu einer Neuordnung Europas führte – auch wenn manche eher an Unordnung denken, wenn sie sich den Zustand Europas vor Augen führen.

Es war ein grossartiges Fest, das damals in Frankfurt gefeiert wurde, und ich kann sagen, ich war dabei gewesen. Nicht nur als staunender Zuschauer und aufmerksamer Zuhörer bei Lesungen und Diskussionen italienischer Autoren, sondern auch als stolzer Aussteller von Übersetzungen italienischer Literatur. Der Hanser Verlag, für den ich arbeitete, hatte kräftig mitgewirkt, die italienische Literatur der Gegenwart in ihrer ganzen Ausdrucksstärke vorzustellen. Acht Jahre zuvor war Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“erschienen, der das Verhältnis der deutschen Verleger zur italienischen Literatur auf eine neue Stufe gestellt hatte, der neue Roman, “Das Foucaultsche Pendel“, war gerade in Mailand vorgestellt worden; jedes Jahr erschienen die älteren Werke des kurz zuvor plötzlich verstorbenen Italo Calvinos in neuen Übersetzungen und natürlich seine letzten Bücher: z. B. die einzigartigen „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“. Eco war natürlich in Frankfurt, um für die gesamte italienische Literatur zu sprechen. Dazu gehörten selbstverständlich auch die Dichter, die wir entweder zum ersten Mal oder in neuen Übersetzungen vorstellten: die grossen Zyklen von Giuseppe Ungaretti und Eugenio Montale, von dem armen Dino Campana oder später von Mario Luzi, die allesamt seltsamerweise zu den „Hermetikern“ gezählt wurden, obwohl sie die klarsten Gedichte geschrieben hatten. Der Triestiner Autor Fulvio Tomizza und der Entdecker des großen portugiesischen Nationalschriftstellers Fernando Pessoa, Antonio Tabucchi, kamen nach Frankfurt, und natürlich der wunderbare Mensch, großartige Germanist und unvergleichliche Biograph der „Donau“, Claudio Magris, der diesen Roman eines Flusses in Frankfurt vorstellte: an unserem Stand wurde oft mehr Italienisch gesprochen als deutsch, und die Übersetzer, Ragni Maria Gschwend, Anna Leube oder Burkhart Kroeber, hatten viel zu tun, um alle Fragen des Publikums zu beantworten. Und wir bei Hanser waren ja nur ein Teil dieser emphatischen Verbrüderung, alle anderen Verlage – und zum Teil wurden Verlage gegründet, um der italienischen Literatur eine Bühne zu geben – hatten ihre Autoren mit ihren neuen Titeln nach Frankfurt geholt. Es war ein deutsch-italienisches Fest der Kultur, eine euphorische Verbrüderung im Namen der Literatur. Wenn der Glanz dieser Veranstaltung der Vorschein des vereinten Europas gewesen sein sollte, dann sollte es mit Freude begrüßt werden. Es war ja der kollektive Ehrgeiz spürbar gewesen, so viel wie möglich von dem Land zu zeigen, das in der Imagination der zwei oder drei Nachkriegs-Generationen die entscheidende Rolle des „Südens“ und der „südlichen Lebensart“ besetzt hatte. Natürlich gab es auch in Spanien und Portugal einige unserer Sehnsuchtsorte, von Mallorca bis an die Algarve, und auch die griechischen Inseln mit den Resten der archaischen Lebensweise bildeten einen fixen Punkt auf unserer inneren Landkarte Europas, sogar die Levante rückte uns wegen der stärker werdenden Mobilität immer näher – aber keine Gegend konnte dem Land zwischen Bozen und Palermo, zwischen Venedig und Rom den Rang ablaufen. Es hat lange gedauert, bis wir wirklich begriffen haben, dass es nicht nur den armen, in anderer Hinsicht überreichen Süden, und den Norden mit seinen Städten und Architekturen, seinen Museen und Universitäten gab – sondern viel mehr: gerade die Literatur hat uns gelehrt, dass man Italien nur dann richtig verstehen würde, wenn man die Ränder und Enklaven verstand, die Minderheiten und Dialekte. (Und ein vereintes Europa würde nur dann sinnvoll sein, wenn überall diese Besonderheiten berücksichtigt und gefördert würden.)
Von Pier Paolo Pasolini lernten wir, welche Rolle der Dialekt seiner Heimat für seine Dichtung spielte. Er selbst hatte in seiner Jugend friaulischen Dialekt gesprochen und seine ersten Gedichte in friaulischer Mundart geschrieben; in vielen seiner streitbaren Essays hat er darauf hingewiesen, dass die Verdrängung der bäuerlichen Lebensweise seiner Kindheit zugunsten einer egalitären Modernität das Ende einer humanen Kultur bedeutete.

Von Claudio Magris lernten wir, dass es in Grado an der nördlichen Adria einen bedeutenden Dichter gab, der in Gradeser Dialekt schrieb, Biagio Marin; auch wenn es noch lange dauern sollte, bis eine deutsche Übersetzung dieses großartigen Dichters vorlag. Magris, der unermüdliche Vermittler zwischen den beiden Ländern und Kulturen, hat in seinem umfangreichen Werk das Problem der Grenzen diskutiert, die den großen Raum Mitteleuropas wie Lebensadern durchziehen – und oftmals ausschliessen, was eigentlich zusammengehört: sein Einsatz zum Beispiel für Scipio Slataper und sein Buch „Mein Karst“, für den genialischen Roberto Bazlen, dem die deutsche Literatur, die er an italienische Verlage vermittelte, so unendlich viel zu verdanken hat, für Giorgio Voghera und Umberto Saba, für den jung verstorbenen Philosophen Carlo Michelstaedter oder Giani Stuparich: die italienische Literatur an den Rändern, von Triest bis Sizilien, ist so unendlich reich und interessant, dass noch viele Buchmessen ausgerichtet werden müssen, um ihre Autoren und Autorinnen zu präsentieren.
Aber Europa hat sich geändert. Nicht nur ist der Eiserne Vorhang gefallen und hat den Blick freigegeben auf die Literaturen Osteuropas, auch die Lebensformen in diesem erweiterten Europa haben sich rasant geändert, von den politischen Rissen, die sich durch den mächtigen Körper des Kontinents ziehen, ganz zu schweigen. Noch kann keiner sagen, wie das Gesicht Europas in fünfzig Jahren aussieht, aber wir wissen, dass es dem Gesicht, das wir kennen und das uns die Jahrzehnte nach dem Krieg so vertraut geworden ist, nicht mehr gleichen wird.
Und die Literatur? Wir dürfen gespannt sein, wie sich Italien in diesem Jahr präsentieren wird. Noch ist so viel zu entdecken, dass wir getrost dem Winter entgegensehen dürfen, an die Abende mit italienischen Büchern…. Und natürlich italienischem Wein.

Michael Krüger

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