Meine römischen Winter in der Villa Massimo gehören zu den schönsten Aufenthalten in meinem Leben, trotz der oft bitteren Kälte, wenn der Wind vom Meer kommt, und trotz des manchmal durchdringenden Regens, der so gesättigt war von der Verschmutzung der Luft, dass er in dicken Schlieren am Fenster hinunterglitt. An manchen Tagen war es Sahara-Staub, wie mich die Zeitung belehrte, darauf wäre ich als Pessimist nie gekommen. Mit grosser Ehrfurcht habe ich die fette Schicht von den Fenstern gekratzt, um wenigstens einen Blick in den gepflegten Garten der Villa werfen zu können. Ich wohnte im sogenannten Villino, einer von den Ateliers abgetrennten kleinen Einheit, die um einen winzigen Garten herum gebaut war. In dem Gärtchen wuchsen zwei Zitronenbäumchen, die immer, wenn ich ankam, Früchte trugen, dicke gelbe Zitronen, die natürlich nicht gepflückt wurden, um das südliche Bild nicht zu zerstören. An den Wänden Spolien mit mythologischen Rätseln, die mich morgens begrüssten. Das Schönste an diesem Eckhaus war aber die Tatsache, dass es neben dem Parterre, wo Bad, Küche und Gästezimmer untergebracht waren, noch einen weiteren Stock obendrauf gab, bis zur Höhe der Ateliers. Und dort oben gab es neben zwei Arbeitsräumen eine kleine Terrasse, von der aus ich sowohl den Garten wie die Villa selber, in der die Leiterin mit ihrer Familie und zwei schwarzen Hunden lebte, überblicken konnte. Um die Hunde gab es ewig Krach, weil sie angeblich überall hinschissen, wo es nicht angebracht war, denn sie bevorzugten mit ihrem sicheren Instinkt natürlich die Plätze, wo die kleinen Kinder der Stipendiaten spielen sollten. Überhaupt die Villa! Eine einzige Gerüchteküche! Wer war bevorzugt, wer war dort zum Essen eingeladen, wer erhielt Privilegien – aber vor allem: wer wurde immer übergangen! Die Villa war wie Kafkas Schloss: manche warteten ihr ganzes Stipendiatenleben vergebens daruf, Einlass zu erhalten. Mir war es, offen gesagt, ziemlich egal, ob ich ins „Haupthaus“ eingeladen wurde oder nicht, und Privilegien wollte ich sowieso nicht haben. Ich war eigentlich froh, wenn man mich in Ruhe liess. Ich hatte ja nur jeweils zwölf bis vierzehn Wochen Zeit, und nicht ein ganzes Jahr wie die anderen.
Auf „meiner“ Terrasse gab es Blumenkästen aus Plastik, in denen nichts mehr wuchs, weil mein Vorgänger, der wunderbar kauzige Berliner Schriftsteller Ingomar von Kieseritzky, dort aus guten Gründen seine Bierdosen eingegraben hatte, weil er nicht wollte, dass Paula, die Hausbesorgerin, von seinen Trinkgewohnheiten erfuhr. Der Arme vertrug keinen Wein! Also kaufte er sich die schillernden Dosen Birra Peroni im Sechserpack, hob die Geranien und Mimosen und anderen schönen Pflanzen, die der Gärtner ausgesucht hatte, aus den Blumenkästen und legte die leeren Dosen hinein. Ein grosses Rätselraten setzte ein. Die wunderbar geduldige Paula, die mit mir Italienisch sprach wie mit einem lieben Haushund – ja, was haben wir denn da? Ein paar Schuhe; wo gehört die Gabel hin? Die Gabel gehört ins Fach -, wusste sich nicht mehr zu helfen, ein grosses Unglück war über die Blumenkästen hereingebrochen, un grande sfortuna! Der unglückliche, immer rauchende, immer Bier trinkende Ingomar hatte sie verhext. Mit mir hatte Paula keine Probleme. Zu Weihnachten vernaschten wir gemeinsam bei Kerzenschein die eintreffenden Pakete mit deutschen Keksen und Lebkuchen, Bierdosen mussten nicht entsorgt werden, weil es bei mir nur Wein gab. Nur ein Rätsel im Zusammenhang mit mir bereitete Paula mal di testa, Kopfschmerzen: warum sah das Bad am Montag manchmal aus wie nach einer Schlacht und warum waren an manchen Wochenenden sämtliche Handtücher im Haus gebraucht? Arme Paula! Denn natürlich konnte ich ihr das Geheimnis nicht erklären, das ich hier lüften will: Es hatte sich in den einschlägigen Kreisen in Rom herumgesprochen, dass ich über eine Dusche und eine Badewanne mit heissem Wasser verfügte. Die einschlägigen Kreise waren deutsche Studenten/innen oder Stipendiaten in Rom, die in zum Teil schlecht oder gar nicht beheizten Zimmern lebten. Ich traf sie – heute wahrscheinlich emeritierte Professorinnen oder pensionierte Kuratorinnen – im Palazzo Zuccari an der Spanischen Treppe, wo die „Hertziana“ untergebracht war, das deutsche kunsthistorische Institut.
Der Direktor des Instituts war ein Professor Winner, ein grosser wohlgeratener Mann, der sich besonders bei Raffael auskannte, und ein wenig von dessen Schönheitsideal war auf Herrn Winner übergegangen. Aber eine noch grössere Attraktivität für mich hatte seine Frau Renate. Ach, sie sprach manchmal das schönste Berlinisch, und selbst wenn sie auf der Dachterrasse des Instituts mit feinen Herren sich Italienisch unterhielt, war ihre Herkunft nicht zu überhören. Ich kannte Renate Adam aus meiner Jugend in Berlin, nein: ich kannte sie damals nur vom Sehen – weil ihre Familie in Nikolassee lebte, wo ich aufgewachsen war. Ihr Haus lag schräg gegenüber einer Heilanstalt für Nervenkranke, und manchmal schauten wir Jungen nach der Schule dort über den Zaun, um den seltsam versponnenen, in sich versunkenen oder hektisch gestikulierenden Menschen zuzuschauen, die dort in einem grossen Garten herumspazierten. Wenn Renate kam, hatten wir natürlich nur Augen für sie. Sie ist lange tot, aber immer wenn ich an sie denke, habe ich das unglaublich fette Berlinisch im Ohr, das sie auch in Rom nicht ablegen konnte. Ihr Bruder Peter, mit dem ich bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr befreundet war, ging damals nach England und wurde einer der bekanntesten Reporter der BBC, der von Fidel Castro bis Muhammed Ali alle vor seiner Kamera hatte. Die Kinder kamen aus einer jüdischen Familie, die den Krieg und die Verfolgung in Berlin überlebt hatte.
Aber nicht nur das Berlinische zog mich zum Palazzo Zuccari, sondern auch die riesige Dachterrasse. Man schwebte über der Stadt. Die Calvinos mögen mir verzeihen, aber eine schönere Aussicht über Rom habe ich nie erlebt: man sah die Hügel um Rom herum, man konnte jede Kirche sehen (die Herr Winner auch identifizieren konnte), jedes architektonische Meisterwerk, ich kam mir manchmal wie ein Kind vor, dem man ein Papierpanorama von Rom geschenkt hatte. Und natürlich sah ich auch die Terrasse der Calvinos, auf der Italo wahrscheinlich gerade dabei war, seine Eloge auf eine Dachterrasse in seinem Buch „Herr Palomar“ zu schreiben. Und Renate freute sich an meiner Freude, die sie noch dadurch anheizte, dass sie mir gerne immer wieder Wein nachschenkte, so dass am Ende die ganze Stadt, bewacht von St. Peter – dem höchsten Bauwerk, das man nicht übertreffen durfte – , wie in einer Schale zu schwimmen schien.
Der Deal mit den Studentinnen bestand darin, dass ich einkaufte, was sie aufgeschrieben hatten, während sie sich duschten und föhnten und salbten, und dass sie dann kochen mussten, während ich an der Piazza Bologna den Wein holte. So kam ich einmal in der Woche zu Schupfnudeln und Rehbraten und ähnlichen Leckereien, während ich unter der Woche streng darauf achtete, die heimische Pasta zu verschlingen.
(Auszug aus „Meine römischen Winter“)