Ein leicht verweichlichter Knabe mit rundem Gesicht und sinnlichen Lippen schaut uns aus tiefbraunen Augen etwas versonnen an. Dicke schwarze Locken umrahmen sein Gesicht wie eine zu große Perücke, mit herbstlichem Weinlaub und einer dicken dunklen Traube bekränzt. Man kann nicht behaupten, dass er bekleidet sei: Er hat sich ein weißes Laken über die linke Schulter und den linken Arm geworfen und über den Bauch geschlungen, vielleicht dasselbe, das auch am linken Bildrand Kissen und Lehne einer Art Liege bedeckt, auf der er sitzt. Die rechte Schulter, Arm und Oberkörperhälfte sind nackt. Während die rechte Hand ein schwarzes, zu einer Schleife geschlungenes Gürtelband hält, streckt uns die linke eine flache Glasschale mit Rotwein entgegen, die preziös mit weggestrecktem kleinen Finger gehalten wird. Zwischen die sitzende Halbfigur und den Betrachter ist eine weiße Tischplatte eingefügt; wahrscheinlich ist ein Tisch mit weißem Tischtuch gemeint. Darauf stehen von links eine zu zwei Dritteln mit Rotwein gefüllte Glaskaraffe, auf der sich das Licht reflektiert, und eine weiße Keramikschale voller größtenteils überreifer, teils schon angefaulter Früchte: helle und dunkle Trauben, ein aufgeplatzter Granatapfel, Feigen, Äpfel, eine Birne, eine Quitte, Feigen- und Weinblätter, letztere größtenteils auch nicht mehr frisch. Es sind alles Früchte des Herbstes, der Jahreszeit des Bacchus. Caravaggio hat in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts mehrere Früchtekörbe gemalt, zumeist wie in diesem Fall mit Figuren, die ganz maßgeblich die italienische Stillebenmalerei angeregt haben. Es war auch neu, dass ein Maler auf eine Stillebenpartie genauso viel Erfindungskraft und Sorgfalt verwendete wie auf eine Figur, wie es Caravaggio selbst von sich sagte: Beides ist in diesem Bild gleichberechtigt.
Ein trinkender, oder sich zum Trinken anschickender junger Mann mit Weinlaub im Haar und mehr oder weniger nackt, den erkennt man noch heute als den antiken Weingott Bacchus. Es handelt sich also um eine mythologische Figur, und eine solche als Halbfigur darzustellen hatte in Mailand, wo Caravaggio geboren und ausgebildet wurde, in der Nachfolge Leonardo da Vincis Tradition. In Rom, wo das Bild entstand, war dergleichen neu. Neu war auch, wie ernst es der Maler mit der Tatsache nahm, dass es sich um eine Figur aus der Antike handelt: Die „Kleidung“ ist ja keine zeitgenössische, sondern evoziert die zu einem Himation geschlungenen Stoffe der antiken Mode, die häufig die rechte Schulter freiließen. Auch die Art, wie der Knabe auf einer Liege lehnt, erinnert daran, dass Gelage des Altertums liegend oder lehnend auf einer Kline, einer Ruheliege, stattfanden. Dass uns Bacchus seine Schale mit der linken Hand anbietet, als wolle er uns zum Mittrinken auffordern, hat wohl kaum etwas damit zu tun, dass Caravaggio sich hier selbst im Spiegel gemalt hat und, da er die rechte Hand zum Malen brauchte, die Schale nur mit der Linken halten konnte, wie manche meinen. Weder trägt der Knabe Caravaggios Züge, noch ist die immer noch weit verbreitete Vorstellung haltbar, Caravaggio habe nur und direkt nach dem Modell auf die Leinwand gemalt; sein Verfahren war komplexer, aber das ist ein anderes Thema. Vielmehr wird er gewusst haben, dass nicht wenige antike Bacchusdarstellungen das Glas ebenfalls in der Linken halten. Während seiner gründlichen Ausbildung in Mailand wird er auch mit den damals neuesten theoretischen Schriften des Mailänder Malers Lomazzo vertraut geworden sein. Der schrieb, dass ein Bacchus wegen des schwelgerischen Lebens, das er führt, mit einem weichen Körper dargestellt werden muss, und hatte, gebildet wie er war, dabei sicher im Sinn, dass schon der antike Dichter Ovid geäußert hatte, Bacchus sei so schön wie ein Mädchen. Eine gewisse Laszivität war dem antiken Weingott also immer eigen. Die auf viele Betrachter androgyn wirkenden Züge dieses Bacchus haben demnach ihren gelehrten Sinn und nichts mit der angeblichen Homosexualität oder dem Lotterleben Caravaggios zu tun, wie sie die immer noch weit verbreitete Legende unterstellt – keines von beidem lässt sich nachweisen.
Das Bild ist aber noch viel hintersinniger, es spielt mehrfach mit der Tatsache, dass alle Malerei Fiktion ist. Zwar sehen die braunen Ränder unter den Fingernägeln aus wie die berühmten Trauerränder, aber zugleich benutzte Caravaggio derlei schwarzbraune Linien auch, um Konturen, beispielsweise die Glasschale zu definieren. Dasselbe technische Element kann also einmal ein optisches Phänomen, ein ander Mal Schmutz sein. Der Wein in der Schale scheint auf den ersten Blick zu schwappen und dabei konzentrische Kreise zu bilden – in Wahrheit sind die Rillen im Glas. Malerei ist also in der Lage, zu täuschen. Darauf deutet auch hin, dass das Gesicht mit den roten Lippen und den scharf und gleichmäßig gezogenen Augenbrauen wie geschminkt wirkt: Malerei an sich galt vielen Autoren seit der Antike als Schminke, also als Kunst der betrügerischen Täuschung. Es wäre nicht das einzige Gemälde, in dem Caravaggio über die Malerei an sich nachdenkt: Der Maler als Magier, der alles herbeizaubern kann.
Das Gemälde ist höchstwahrscheinlich in den Jahren entstanden, als Caravaggio in Rom im Haushalt des kunstsinnigen, gelehrten und naturwissenschaftlich interessierten Kardinal Francesco Maria Del Monte lebte, seinem ersten und wichtigsten Protektor, von dem er viel lernte. Es ist nicht mehr ganz klar, ob er vor oder nach 1595 dort Aufnahme fand. Del Monte war außerdem antiken-, musik- und theaterbegeistert, in seinem Palast und in denen seiner gleichgesinnten Freunde fanden häufig Aufführungen statt, für die sich die Darsteller „all’antica“ verkleiden mussten. Das Verkleiden, Perücke tragen, Schminken und Posieren deutet also darauf hin, dass hier ein Knabe den Bacchus mimt wie auf dem Theater, und zwar einer, dessen Hände und Gesicht sonst an der Sonne sind. Das kam den Interessen Del Montes ebenso entgegen wie die dargestellten Glasgegenstände: Er war ein passionierter Sammler, der über 500 Karaffen, Gläser und Schalen aus dem damals noch sehr teuren Glas besaß, zumeist aus der mediceischen Glasmanufaktur. Dem Florentiner Hof war Del Monte als Vertrauter und Freund des Großherzogs Ferdinando I. de‘ Medici eng verbunden, Geschenke wurden eifrig ausgetauscht, darunter auch Glasobjekte von Florenz nach Rom. Da jede frühe Erwähnung dieses Gemäldes fehlt und es erst in einem Inventar von 1609, dem Todesjahr Ferdinandos I., als in dessen Lieblingsvilla in Artimino bei Florenz hängend erwähnt wird, wird allgemein davon ausgegangen, dass Del Monte es seinem Freund geschenkt hat. Die Hand, welche die Schleife hält, deutet auf das Herz, die Glasschale lädt zum Anstoßen ein – wie könnte man besser, als mit einem guten Rotwein, eine tiefe Freundschaft bekräftigen? Und wird das Obst auch zum Winter hin faul – der Wein hält sich.
Am 11. September 1797 ist Veroneses «Hochzeit zu Kana» von den Kommissären der napoleonischen Truppen geraubt und zusammen mit Werken von Giovanni Bellini, Tizian und anderen nach Paris übergeführt worden, um dem Louvre weiteren Glanz zu verleihen. Die Venezianer forderten nach dem Sturz Napoleons die Rückgabe des Gemäldes. Der Bildhauer Antonio Canova war beauftragt, sich 1815 in Paris für die Restitution der Kunstwerke einzusetzen, was er mit viel Geschick tat.
Im Fall von Veroneses Gemälde war er allerdings machtlos. Seinem engen Freund Leopoldo Cicognara, einem Multitalent und versierten Diplomaten, schrieb er nach Venedig, dass es in Bezug auf Veronese gar nie zu Verhandlungen gekommen sei. Der österreichische Kaiser Franz I., der nach dem Wiener Kongress erneut über Venetien herrschte, hatte nämlich unglücklicherweise das französische Angebot für einen Austausch von Veroneses Gemälde gegen ein unbedeutendes Werk von Charles Lebrun bereits angenommen, ohne sich zuvor mit Canova abgesprochen zu haben.
Die spätere Forderung der Venezianer nach Rückgabe des Gemäldes lehnte die Direktion des Louvre immer wieder ab unter dem Vorwand, eine Überführung nach Venedig würde dem schwer beschädigten Gemälde den Rest geben. Dabei unterschlug man die immensen Schäden, die bei der ruchlosen Beschlagnahmung entstanden waren, das Zerschneiden der Leinwand in Einzelteile oder den unsorgfältigen Transport. Schliesslich verzichteten die Italiener – ungeachtet ihres Anspruchs – auf das Original und entschieden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts für ein in Scannertechnik hergestelltes Faksimile.
Das in Madrid ansässige Laboratorium Factum Arte unter der Leitung von Adam Lowe hat im Auftrag der Fondazione Giorgio Cini, die heute in den Räumlichkeiten des ehemaligen Klosters auf der Isola di San Giorgio zu Hause ist, mit Hilfe modernster Technologien eine verblüffend ähnliche Kopie geschaffen, ein brillantes Duplikat des riesigen Gemäldes. Dieses wurde mit einer raffinierten Lasermethode digitalisiert. Die Daten hat Lowes Team in einen Drucker eingegeben, der das Bild in mehreren Phasen mit zu Veroneses Zeit bekannten Farbtönen auf eine grundierte Leinwand im Verhältnis eins zu eins übertrug. Immer wieder wurden die Farben auf den ausgedruckten Bildteilen mit dem Original verglichen, um grösstmögliche Übereinstimmung zu erreichen. Überzeugend hat man auch versucht, die Alterung des Kolorits nachzuvollziehen. Die Einzelstücke sind so exakt zusammengefügt, dass die Verbindungslinien mit blossem Auge nicht zu erkennen sind.
Seit 2007 kann dieses faszinierende Werk in S. Giorgio Maggiore an seinem ursprünglichen Ort an der Stirnwand von Andrea Palladios 1560 bis 1563 erbautem Refektorium wieder bewundert werden, als Faksimile eben. Wer jetzt den Raum mit dem «neuen» Veronese betritt, staunt, dass so etwas möglich ist. Auch wenn man nahe an die Bildoberfläche herantritt, wirkt das Ganze erstaunlich echt, bis hin zur unregelmässigen Gemäldeoberfläche.
Obwohl das Imitat bloss ein Ersatz für ein abwesendes Werk ist, vermittelt es doch einen überwältigenden Eindruck von Veroneses grandiosem Gemälde, diesem spektakulären Theater mit über 100 Figuren. Am originalen Standort im Refektorium von San Giorgio Maggiore gehen Malerei und Architektur eine gloriose Verbindung ein.
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