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Die andere Heimat: Thomas Mann in Italien

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Thomas Mann, umringt von Mitarbeitern des Verlags Arnoldo Mondadori im Garten der prächtigen Villa Mondadori, in Meina am Lago Maggiore, im August 1947. Alberto Mondadori (dunkles Poloshirt), Arnoldo Mondadori (hinter Thomas Mann) und Lavinia Mazzucchetti, Germanistin und begnadete Übersetzerin deutscher Literatur © Archivio Mondadori

 

Er war zwanzig Jahre alt, er hatte viel zu wenig Geld, er hatte den Kopf voller Pläne und voller Figuren, die er zum Leben erwecken wollte in seinem kommenden Leben, als Thomas Mann nach Hause kam. Nach Hause in Italien. Wie denn? Der junge Mann aus Norddeutschland, Sohn aus gescheiterter Kaufmanns-Dynastie, gerade frisch nach München gezogen und nun für eine Weile zum Nichtstun zu seinem Bruder in den Süden gereist – kommt in Italien nach Hause? Wenig Orte in Europa konnten seiner Heimat doch ferner sein, oder? Er liebt doch die graue, kühle Ostsee bei Travemünde, die mittelalterliche, giebelige Stadt Lübeck, in der er und seine Familie einst zu den angesehensten Bürgern gehörten. Ausgerechnet dieser Thomas Mann sollte sich in Italien zu Hause fühlen? Es war eine innere Verbundenheit von Anfang an da, ein Sich-angezogen-fühlen, verbunden jedoch immer auch mit einem instinktiven Davonlaufen-wollen. Er war zunächst vor allem in der Landschaft zu Hause – und das buchstäblich. Es war im Herbst 1895, als er mit Heinrich von Rom an die Bucht von Salerno zog und er aufs Wasser schaute. Er kannte den Blick. Sein kleiner Bruder Viktor hat diesen Blick später so beschrieben: „Blaue Berge senkten sich zu einem noch blaueren Sund, über den ein altertümlicher Segler zog.“ Und der ältere Bruder Heinrich beschrieb die Aussicht so: „Die Bucht voll Wohllaut der Linien, ihre weißen Städtchen, Normannenburgen, im Vordergrund gegen das tiefe Meeresblau, die Gruppen der Fischer und Frauen.“
Es ist ein Gemälde, das die Brüder hier beschreiben. Sie sind mit dieser Landschaft aufgewachsen, in jenem Hause, das die Welt später als „Buddenbrookhaus“ kennenlernen wird. Und – ja, auch in dem weltberühmten ersten Roman Thomas Manns ist dieses Gemälde beschrieben: „Über dem massigen Büffet, dem Landschaftszimmer gegenüber, hing ein umfangreiches Gemälde, ein italienischer Golf, dessen blaudunstiger Ton in dieser Beleuchtung außerordentlich wirksam war.“
Thomas Mann ist in diesem Herbst 1895 in Italien nach Hause gekommen. Und vielleicht musste es geschehen, dass er ausgerechnet hier, in so weiter Ferne der kühlen, norddeutschen Heimatstadt, jenes Opus seiner Herkunft, das Opus des deutschen Niedergangs aufschreiben musste. Thomas Mann war – in das Gemälde seiner Kindheit gereist, in die Traumlandschaft seiner Kindheit. Hier in Italien, legte er den Grundstein seines unvergänglichen Weltruhms.

Hier, in Italien, fing alles an. Von hier aus sandte er dem jungen Verleger Samuel Fischer seine Novelle „Der kleine Herr Friedemann“ nach Berlin, jene Novelle, mit der Thomas Mann, wie er später bekannte, erstmals erfahren hatte, welches Befreiungspotential das Schreiben für den Künstler bereit hält. Wenn man nämlich ohne Masken und ganz unverstellt über sich, über das eigene Leiden schreibt. Frei und befreiend. Samuel Fischer hatte das in jenem Text erkannt und schrieb dem jungen Autor nach Italien, dass er gerne Erzählungen von ihm veröffentliche, dass er dafür aber nicht viel bezahlen könne. „Ungleich mehr“ könne er für einen langen Prosatext bezahlen. Und – da Thomas Mann erstens in Geldnot war und zweitens, schon eine ganze Weile die Geschichte seiner Familie als möglichen Romanstoff im Kopf hatte, sagte er zu und fing an. Fing hier in Italien, in Rom an, Neapel, Palestrina, an, seinen norddeutschen Familienroman zu konzipieren. Der Grundstein der Buddenbrooks liegt hier.
Thomas Mann war von Beginn an magisch angezogen von dieser Landschaft, diesen Städten im Süden: „Von Rom bin ich begeistert“, schrieb er im Oktober 1895 an einen Freund in Deutschland. „Ich werde so lange wie möglich hier bleiben, wahrscheinlich bis November.“
Er schrieb hier zwei frühe Novellen, die verloren gegangen sind, „Begegnung“, hieß die eine, „Im Mondlicht“ die andere. Er schrieb hier die wunderliche frühe Geschichte „Enttäuschung“, das einzige gemeinsame Werk mit seinem Bruder Heinrich ist hier entstanden, „Bilderbuch für artige Kinder“ hieß es, für die Schwester Julia konzipiert und leider auch verschollen.
Ein Leben lang kehrte er immer wieder nach Italien zurück. Vor allem natürlich nach Venedig. Seine Aufenthalte hier sind direkt in die Weltliteratur eingegangen. „Der Tod in Venedig“ erschien 1913, ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Untergangszauber, der den ruhmreichen Schriftsteller Gustav von Aschenbach in die Tiefe zieht, ist für Thomas Mann stets mit Italien verbunden gewesen. Bei seinem ersten Aufenthalt in Palestrina war ihm, so hat er später versichert, in einer „Vision“, der Teufel erschienen. Diese Begegnung wird er in sein Spätwerk den „Doktor Faustus“ einarbeiten. Und auch der Hypnotiseur und dunkle Magier Cipolla, aus der Novelle „Mario und der Zauberer“, die 1930 erschien, ist ein unheimlicher Führer in den Abgrund, ins Verderben. Doch ist hier die Hauptfigur der Erzählung, anders als im „Tod in Venedig“ ein Mann mit Widerstandskräften. Einer, der widersteht. Wie auch Thomas Mann, geläutert durch die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs, ein Geläuterter war. Ein überzeugter Demokrat. Der den aufkommenden Faschismus in Italien mit großer Besorgnis sah und früh schon fürchtete, diese politische Bewegung könnte nach Deutschland übergreifen.
Und so war er von Italien stets gleichermaßen angezogen wie mitunter auch abgestoßen. Wie sagt Thomas Manns alter ego Tonio Kröger zu seiner Künstlerfreundin Lisaweta in der berühmten Novelle, als sie im Gespräch vermutet, er, Kröger, würde doch gewiss wieder nach Italien fahren: „‘Gott, gehen Sie mir doch mit Italien, Lisaweta! Italien ist mir bis zur Verachtung gleichgültig! Das ist lange her, daß ich mir einbildete, dorthin zu gehören. Kunst, nicht wahr? Sammetblauer Himmel, heißer Wein und süße Sinnlichkeit … Kurzum, ich mag das nicht. Ich verzichte.“
Immer wieder war er auch abgestoßen von diesem Süden. Meist aus Furcht, wie sein Held Aschenbach, dem Zauber des Südens zu erliegen. Nur ein Wort aus den oben zitierten Kröger-Sätzen würden wir dem Autor in Bezug auf Italien nicht glauben: „gleichgültig“. Nein, gleichgültig war Italien Thomas Mann nie.
Es blieb ihm eine schwierige, zweite Heimat ein Leben lang. Was er 1925 über Venedig schrieb, könnte für das ganze Land gelten: „Mein Gott, mit welcher Bewegung sah ich die geliebte Stadt wieder, nachdem ich sie dreizehn Jahre lang nur im Herzen getragen! Ich hörte wieder ihre Stille, das geheimnisvolle Anschlagen des Wassers an ihre schweigenden Paläste, ihre Todesvornehmheit umgab mich wieder. Die Gondolieri tauschten ihren Ruf. Ich war zu Hause…“
Mit der Liebe von Thomas Mann zu Italien ist es das gleiche wie mit seiner Liebe zum Meer, die ihn ein Leben lang und sein ganzes Schreiben lang begleitete. Bis zum Ende seines Lebens ließ das Land ihn nicht los. Im Sommer 1953, zwei Jahre vor seinem Tod, kehrte er zurück nach Rom, nach Palestrina, an die Stätten, wo er sein Lebenswerk begann, auch an den Ort, an dem ihm einst der Teufel begegnet war. Er schwärmt in Rom, schwärmt in Erinnerungen an seine Begeisterung von einst, an Begegnungen von einst, schreibt in sein Tagebuch: „Die Plätze, die Kirchen, die Brunnen, Säulen, Obelisken. Sankt Peter, der herrliche Platz. Die Stelle bei der Petrus-Figur, wo ich vor 58 Jahren den hochmütigen Prälaten nach Rampolla fragte. Wie anders nun! –“

Das Leben neigt sich dem Ende zu. Wohl dachte er schon, es sei sein letzter Besuch im Sehnsuchtsland gewesen. Doch schon acht Monate später ist er wieder da. Wieder in Rom. Nun schließt sich endgültig der Kreis. An den Orten, an denen er seinen ersten Roman zu schreiben begonnen hatte, liest er nun die Korrekturen seines letzten, des „Felix Krull“. Seine Tochter Erika hatte ihm das Manuskript mit ihren Anmerkungen mitgegeben. Lustlos arbeitet er sie ein.
Er will eigentlich nur schauen, sein Rom, will sich erinnern an seine Anfänge und den Lebenskreis schließen. Seine Lieblingstochter Elisabeth, die zu der Zeit in Florenz lebt, ist bei ihm. Sie wird des Vaters Meeresleidenschaft nach seinem Tode in aktivem, politischem Gestaltungswillen in weltweit tätigen Aktivismus umsetzen. Thomas Mann schreibt am 4. Februar 1954 in sein Tagebuch: „Sympathie für Rom mit seinen Obelisken und Brunnen. Möchte wohl dort leben.“ Es wäre eine späte Heimkehr gewesen. Doch er kehrt in die Schweiz zurück, mit dem Schnellzug über Florenz nach Mailand, ein letzter Abend in der Scala, „Riesenhaus, akustisch wie aus Geigenholz“. Was für ein Abschied von Italien für immer: „Glänzendes Leben!“ notiert er. Der Flug am nächsten Tag fällt aus. Ein Unwetter. Ein Zeichen. Soll er bleiben? Doch er nimmt den Nachmittagszug nach Zürich: „Sechs Stunden vergingen so-so. Kaum gelesen. Geruht und die Zeit schwinden lassen.“
Es war sein letzter Aufenthalt in seinem zweiten Heimatland Italien. Am 12. August 1955 ist Thomas Mann in Zürich gestorben.

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