In eigener Sache 2018
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Das erste Mal, als ich einen jungen Mann, dem Aussehen nach völlig normal, auf der Straße allein sprechen sah, dachte ich an einen Gestörten. Als ich immer häufiger solche Gestalten wahrnahm, die, schnell gehend, völlig aufs Gespräch konzentriert waren, realisierte ich dann, dass alle verkabelte Wesen waren, sie trugen unsichtbare Kopfhörer, um auch im Gehen telefonieren zu können.
Die Natur ist für die Geduldigen, die Technik für die Schnelllebigen. Alles-und-Jetzt ist die Devise von denen, die einen Cappuccino im Gehen trinken, gleichzeitig dabei ihre Lieblingsmusik hören, eine Konversation führen und immer wieder furios auf Handytastaturen tippen. Ich frage mich: an wen schreiben sie, was schreiben sie, was oder wem entkommen sie, ob im Zug, im Flugzeug, auf der Bank im Park, auf dem Sofa einer Bar, überall wird geschrieben, werden Bilder angeschaut in der Haltung, die nun schon eine ganze Generation auszeichnet: die Schultern leicht nach vorne gebeugt, die Augen nach unten fixiert, ohne jegliche Interaktion mit der langweiligen Welt außerhalb der digitalen Dimension. Sie sind schnell, auch im Vergessen, sie wissen viel über die Zukunft, von der Wettervorhersage angefangen, wenig aber über die Vergangenheit.
Ich stehe abends vor dem Turm von Pisa, alles ist Ruhe, wie in einem duftenden Jasmin-Garten und staune erleichtert: keine e-Gesellschaft in Sicht. Aber ich möchte diese Armee von Handy-Militanten, die über unsere Straßen schweben, nicht bagatellisieren. Ich bin sicher, es gibt viele Manager unter ihnen, die nicht warten können, Entscheidungen zu treffen, Verhandlungen zu führen oder Notsituationen zu lösen. Manager ist ein italienisches Wort, aus dem Lateinischen manu agere abgeleitet, „führen per Hand“. Die Vokabel wurde dann im Reitsport verwendet (Manege) und heißt eigentlich „mehr aus dem Pferd herausholen als in ihm steckt“. Übertragen auf unsere Manager-Gesellschaft scheint mir, dass das Haptische im Zwischenmenschlichen verlorengegangen ist zugunsten aber des Handys, aus dem so viel herausholt wird, bis die Tasten glühen. –
Vor 100 Jahren, 1918, endete der Erste Weltkrieg, einer der blutigsten Kriege aller Zeiten. Nach der italienischen Vereinigung 1860 merkte der damalige Ministerpräsident, der Piemontese Camillo Graf von Cavour, an: „Heute haben wir Italien gemacht, jetzt müssen wir die Italiener machen.“ Fast 60 Jahre danach kam die Jugend aus dem italienischen Süden erstmalig mit der aus dem Norden zusammen: sie verstanden sich kaum, sie hatten andere Sitten, sie aßen und dachten sehr unterschiedlich. Über eine Million dieser Jugend starb (die genaue Zahl ist immer noch nicht festgestellt worden). Fast genauso viele kamen zurück, schwer verletzt, ohne Beine, ohne Augen, ohne Seele, und ohne verstanden zu haben, wofür sie gekämpft hatten.
Meine Großmutter Rachele stammte aus dem Friaul, der Region im Nordosten Italiens, wo neben Venetien die grausamsten Kämpfe stattfanden. Noch heute sind kulturell diese Grenzregionen Italiens von ihrer Geschichte geprägt: eigene Sprachen, Ladinisch, Friaulisch und Zimbrisch, Autonomiebestrebungen, eigene Literatur und verzehrende Lieder, die immer noch gesungen werden. Diese Großmutter war eine besondere Schönheit, die trotz der Dramen und Stürme, die sie überfielen, mit einem außerordentlichen Charakter ausgestattet war: nur singen und weinen (sie hatte keine Tränen) konnte sie nicht. Fast im Alleingang zog sie sieben Enkelkinder auf, mit Freude und Humor. Sie liebte uns Mädchen mit kurzen Röcken und Jungs mit langen Haaren, ermunterte zu sozialem Engagement, Reisen, Entdeckungen. Sie lebte uns vor, dass die Freiheit der Intuition wichtiger sei, als die Macht der Konstriktion. Von ihr hörten wir die Geschichte von Arrigo Crisanti.
September 1916. Die 12. Staffel der italienischen Luftfahrt wurde mit einer Geheimmission beauftragt: nach Görtz fliegen, um ein Gebäude von strategischer Bedeutung für die Österreicher zu zerstören. Arrigo Crisanti flog im sattblauen Himmel mit seinen Männern bis 300 Meter über die Stadt. Direkt über dem Zielobjekt angekommen, sah er aus dem Gebäude fröhliche Kinderscharen herausrennen.
Es war eine Schule, die Kinder schwärmten gerade in die Pause aus. Schreckliche Momente der Entscheidung. Arrigo Crisanti zögerte und befahl dann seiner Staffel zurückzukehren. „Mission nicht abgeschlossen“ berichtete er seinem Vorgesetzen. Die ganze Mannschaft wurde verhaftet und des Hochverrats beschuldigt. Die Todesstrafe durch Erschießung war nicht ausgeschlossen. Die Militärgerichtskommission aber sprach sie frei, mit der Begründung, dass „Disziplin nicht mit blinder Gehorsamkeit verwechselt werden darf: Disziplin ist Großzügigkeit, keine Dummheit.“ –
Palladio ist in Venedig überall präsent. Im Winter, wenn die Stadt am schönsten ist, wie gedämpft vom Hauch der Engel, erheitert uns die geometrische Perfektion seiner weißen Marmorfassaden. Venedig ist Architektur aus Licht und Rhythmus. Sie ist eine Ode an das Leben: ein Spiel, eine Pracht, ein Mysterium. Goethe sah hier zum ersten Mal das Meer. Das Jahr war 1786, es war ein herrlicher Septembermittag. Er erklomm, ein Fernrohr unterm Arm, den fast 90 Meter hohen Markusturm. Danach schrieb er nach Hause: „Sage, wie lebst du? Ich lebe! Und wären hundert und hundert Jahre dem Menschen gegönnt, wünsch‘ ich mir morgen, wie heut.“
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