In eigener Sache 2023
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Si vis amari, AMA
Als ich etwa zwanzig war, rief meine Mutter mich in Florenz an. Normalerweise schrieb sie, ich nahm also an, dass es etwas Dringendes sein musste. Sie beschwatzte mich, an einem Wettbewerb teilzunehmen, in Rom. Wie sie davon Wind bekommen hatte, bleibt unbekannt – Latium und Venezien waren damals wie unterschiedliche Länder – aber bei uns in der Familie fragte man nicht lange, sondern gehorchte und packte an. Es ging um ein Stipendium für Australien. Gesagt, getan, bestanden und schon flog ich für ein Semester nach Brisbane, Queensland.
Bei meiner Abreise aus Venedig sagte sie einen Satz, der ein bisschen ihr Markenzeichen wurde: „Sich verabschieden, als würde man sich morgen wiedertreffen und sich begrüßen, als hätte man sich gerade gesehen.“ Es bedeutete, dass sie weder lange verabschiedete noch begrüßte, egal wie lange man fortblieb!
Eine Bekannte der Familie hatte von meiner Reise gehört, ihr verstorbener Mann war ein Brillenproduzent aus den Dolomiten. Meine Mutter hatte eingefädelt, sie zu treffen, und bevor ich mich versah, bekam ich einen Lederkoffer mit den schrägsten Designer-Sonnenbrillen in die Hand gedrückt und wurde damit beauftragt, die Australier auf den Geschmack zu bringen. Bei der dortigen Sonne erhoffte sich die Witwe, bestärkt von meiner Mutter, einen durchschlagenden Erfolg.
Vielleicht war Australien noch nicht reif für den italienischen Stil – wie meine Mutter später gerne behauptete – oder die Brillen waren in ihren verrückten Formen und Farben buchstäblich unverkäuflich, aber Fakt ist, dass ich nach einem halben Jahr mit vollem Koffer heimkehrte, ohne auch nur eine einzige Brille an den Mann gebracht zu haben.
Italiener sind schon immer emigriert. Allein in den letzten hundert Jahren haben über dreißig Millionen Venetien, Piemont, Sizilien aus Hunger und Not verlassen, und wurden dann ihr Leben lang von Heimweh geplagt. Es war die Sehnsucht nach Farben, nach Licht, nach Düften, nach den weiten Piazze, die allen, auch den Ärmsten gehören, nach den Kirchen mit ihrer Friedlichkeit und den prächtigen Gemälden, die in einer universellen Sprache kommunizieren: die der Schönheit.
Mir ging es nicht so anders, als ich wenige Jahre später mit einem Fulbright Stipendium in Amerika studierte und mich nach etwas Essbarem und italienischen Schuhen (in exakt dieser Reihenfolge) sehnte. Das Paket kam postwendend, sorgfältig hatte meine Mutter ihren legendären Stockfisch mit einem Paar Rossetti-Stiefeletten eingepackt. Es war nicht nur der Genuss, den ich mit den Kommilitonen in meinem kleinen Zimmer auf dem Campus teilte, es war die Erinnerung an die mühseligen Vorbereitungen der Mutter. Den Fisch vom Salz zu reinigen, ihn wie Wäsche in der Sonne aufzuhängen, in einer milchigen, kremigen Sauce mit dicken Rosinen langsam eingehen zu lassen. Ich sah sie beim Feinhacken der Petersilie, beim Streuen des Parmesans… alles war ein Freudenkonzert der Sehnsucht.
Jahrelang hatte ich versucht, aus meiner Mutter eine konformere Mutter zu machen, sie zu überzeugen, die Lehrer in der Schule zu den Sprechstunden zu besuchen (sie ist nie gegangen), sie zum Rauchen zu verleiten (erfolglos), Espresso zu trinken (keinen einzigen hat sie in ihrem langen Leben genossen), Geburtstage zu feiern (seltenst!). Aber natürlich war nicht ich es, die sie formte, sondern sie mich. Sie reiste immer voller Freude, ganz spontan mit, meistens ohne Koffer, unauffällig, neugierig, kultivierte Freundschaften mit jungen Menschen, die sie wie eigene Kinder liebte. Ihre Neigung, das Gute in den Menschen zu sehen, war derart ausgeprägt, dass sie mich manchmal zur Weißglut trieb.
Auf einer Fahrt von Frankfurt nach Stuttgart, bei welcher der Zug mehrere Stunden Verspätung ansammelte, lobte sie die herrliche Landschaft, die man gerade dank des langsamen Fortschreitens genießen konnte. Die anderen Reisenden wurden immer wütender und die Ansagen kleinlauter: „Meine Damen und Herren, verzeihen Sie unsere Verspätung.“ Woraufhin meine Mutter den Bon Ton der Deutschen lobte und die wiederholten „Reparaturen der Schienen… Kontrollen der Maschinen…“ bestärkten meine Mutter in der Überzeugung, dass es sich um ein technisches Volk handelte, immer auf der Suche nach Verbesserungen, die sie eben den Passagieren mitteilen wollten. Sogar bei der letzten Ansage, „der Lokführer hat persönliche Probleme, wir bitten um Ihr Verständnis“, die zu Tumult in der Abteilung und furiosen Kommentaren führte, wurde von ihr seraphisch aufgenommen: „Der Arme. Er ist eben auch nur ein Mensch, und hat bestimmt schon viele Arbeitsstunden hinter sich.“
Jede Reise endet, doch vieles bleibt.
Wie ein altwürdiger Baum, der für Generationen eine Landschaft prägt. Er hat Kriege, Sturm und Hitze überlebt, jahraus, jahrein sind grüne Blätter von seinen Ästen geknospt und doch tun sie es eines Tages nicht mehr. Aber die Erinnerungen an ihn bleiben bestehen, er schützt uns weiter, wie damals, als er über uns fröhlichen Kindern stand, ein Riese mit aufgeschlagenen Armen, und sich großzügig zwischen Erde und Himmel stemmte, um uns Schatten zu spenden.
Meine Mutter und ich sprachen viel, über ihre geliebte Emily Dickinson, über das Mysterium des Lebens, den Zahn der Zeit, die Stille, die Notwendigkeit, den eigenen Weg zu bestreiten, das Geben und das Lieben.
Si vis amari, AMA
Stefania Canali
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