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Arkadien im Überseekoffer

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Arkadien im Überseekoffer

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Seit 1933 führen alle Wege von Weimar nach Arkadien über den Atlantik. „Princeton, Sonntag den 7.I.1940“, hielt Thomas Mann in seinem Tagebuch fest: „Mittags gegangen mit K. und Niko, der von Panowskis [!] bösem Pudel angefallen wurde.“ K., das war Katja, die Ehefrau, und Niko, der Haushund der Manns. Wer aber verbirgt sich hinter dem nach Mark und Fontane klingenden Namen „Panowski“? Mehr über jene sonntägliche Begegnung in dem beschaulichen 10 000-Seelen-Städtchen New Jerseys ist Thomas Manns Tagebüchern nicht zu entnehmen.

Der Satz ist freilich lapidar genug, um denkwürdig zu sein. Immerhin handelt er vom Rencontre der beiden, neben Albert Einstein, im gemeinsamen Exilland prominentesten Vertreter dessen, was in den USA noch heute den emphatischen Namen Weimar Culture trägt. Die Legende hat daraus sogar eine Art Familienbild gemacht: Im Nachruf auf den 1892 in Hannover geborenen, in Berlin aufgewachsenen und bis 1933 in Hamburg lehrenden Kunsthistoriker Erwin Panofsky war in der New York Times vom 16. März 1968 zu lesen: Seine erste Frau Dora – eine Nichte des Berliner Zeitungsverlegers Rudolf Mosse – habe Anfang der vierziger Jahre krank und schlaflos darniedergelegen, als sich das Princetoner Trio Panofsky, Einstein and Thomas Mann an ihrem Bett versammelt habe, um ihr in Wechselschichten durch lautes Vorlesen Trost und Zerstreuung zu spenden. Und weil es eine Legende ist, ließe sich auch vorstellen, Thomas Mann habe der Kranken aus der während der Princetoner Exiljahre entstandenen „Lotte in Weimar“ vorgelesen – jenem melancholischen Rückblick auf die vergangene „Abteilung German literature and philosophy“, von der im Roman die Rede ist.

In Wirklichkeit hielten Thomas Mann und Erwin Panofsky in Princeton eher diskreten Abstand voneinander. Und was das zufällige Rendezvous angeht: Seinem New Yorker Bekannten Siegfried Kracauer schrieb Panofsky einmal, er denke, „wenn überhaupt, immer auf Spaziergängen im Walde“. Doch seit dem Verlust seines treuen „Setter-Hundes“, seien ihm die Promenaden allzu traurig geworden. Seltsamerweise besaß der Hundeliebhaber und Melancholieforscher – dem Hund weist Panofskys berühmte Auslegung von Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“ eine symbolische Schlüsselrolle zu –, also gar keinen „Pudel“. Es scheint, als habe der Dichter seiner Tagebuchnotiz ein wenig nachgeholfen und Panofsky – dessen Namen er außer mit einer falschen Endung, hündisch genug, mit einem ostentativen „W“ in der Mitte schreibt – um der Alliteration willen einen kläffenden Pudel statt eines braven Setters beigegeben. Es mag albern klingen, doch wenn man es schon mit Fehlleistungen zu tun hat, kann man der phonetischen Assoziationsgabe gleich freien Lauf lassen: Das „W“ – wie „Werther“ – oder „Wetzlar“ oder „Weh mir, wo nehm’ ich, wenn es Winter ist“ usw. –, lässt sich vom schwermütigen Kopfe auch auf die Beine stellen, und prompt erhält man ein molliges „M“ – wie „Mignon“, „Madeleine“… oder wie „Marzipan“, womit Thomas Manns Rede über die Heimatstadt „Lübeck als ‚geistige Lebensform‘“ den Korridor zwischen Italien und dem hanseatischen Norden versüßt: „Marci-pan, das heißt offenbar, oder wenigstens nach meiner Theorie, panis Marci, Brot des Marcus, des heiligen Marcus, der der Schutzheilige von Venedig ist.“ Dahin, dahin…

Allora, andiamola: In Venedig, dem Weimarer Eintrittstor nach Italien, davor der Wunschrömer Goethe sein Wiedergeburtsmotto Auch ich in Arkadien! auf das Vorschaltblatt der „Italienischen Reise“ geschrieben hatte, waren sich Erwin Panofsky und Thomas Mann laut Auskunft der zweiten Ehefrau Gerda Panofsky-Soergel bereits lange vor Princeton begegnet – gleich zweimal sogar, beim ersten Mal leibhaftig, und beim zweiten Mal philologisch vermittelt: leibhaftig, als Panofsky auf seiner Verlobungsreise während der fatalen Choleraepidemie des Jahres 1911 Feriengast des gleichen Hotels am Lido war, in dem sich auch Thomas Mann einquartiert hatte, um dort die Szenerie für die Künstlernovelle „Der Tod in Venedig“ zu entdecken. Panofsky soll sogar persönlich mit jener polnischen Familie bekannt gewesen sein, der das lebende Vorbild für den Tadzio entstammte, worüber der Kunsthistoriker zum unfreiwilligen Zeugen bei der Entstehung von Literatur aus dem noch unverwandelten Leben wurde. Zwei Jahrzehnte später, im August 1932, schrieb Panofsky einem Freund, er sei „vor Hakenkreuz und Kunstgeschichte“ geflohen – auf die Insel Bornholm zunächst, wo er sich mit Poussin und der Überlieferung des Arkadienmotivs in Kunst und Literatur befasse. Vier Jahre danach war aus dieser Beschäftigung ein Et in Arcadia ego betitelter Essay entstanden, den man als philologisches Paralipomenon zu Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ wie zu Goethes „Italienischer Reise“ lesen kann.
Panofskys Entdeckung war, daß die Überlieferungsgeschichte des Arkadienthemas einem Bedeutungswandel unterlag, der jahrhundertelang ein grammatikalisches Mißverständnis transportierte: Das Bild der bukolischen Urlandschaft, vermeintlich einer Insel der Glückseligen, sei hingegen schon in der pastoralen Dichtung des Römers Vergil durch die allegorische Anwesenheit des Todes elegisch gebrochen gewesen. Grammatikalisch korrekt gelesen, bedeute „Et [etiam] in Arcadia ego“ nämlich nicht: „Auch ich bin in Arkadien [geboren oder wiedergeboren]“, sondern: „Auch [sogar] in Arkadien bin ich“– nämlich der Tod, der so spricht und zeichnet.

Wo noch bei Goethe als ein mythischer Anfang, das Initium seiner italienischen „Wiedergeburt“ – alias „Renaissance“ – gesetzt war, bringt der historisch-kritische Philologe eine Konjektur an und stellt die korrekte Lesart eines alten Textes wieder her. Die schlichte philologische Tat birgt dabei einen Befreiungsschlag: Gehörte Panofsky im Jahrhundertstreit um den Begriff der Renaissance auch zu dessen profiliertesten Verteidigern, so nahm er hingegen zu allem, was das Konzept an mythischen Vorstellungen von „Wiederbelebung“ umschließt, ein von sublimer Distanz, feiner Ironie und zarter Melancholie geprägtes Verhältnis ein, mithin ein gebrochenes Verhältnis schlechthin.
Dem entsprechen der ausgeprägte Humor, Stil und Takt in Panofskys eigenem Umgang mit der Sprache. Unter der Trost- und Lieblosigkeit, die das von Panofsky zu Weltruhm beförderte Fach Kunstgeschichte heute sowohl gegenüber seinen Gegenständen wie gegenüber den Formen ihrer sprachlichen Vermittlung ausströmt, scheint es keinen Platz mehr dafür zu geben. In der Sprache verbirgt oder offenbart sich jedoch eine ganze Philosophie oder, wenn man so will, Panofskys „Methode“: eine phänomenale, sprachlich und gedanklich gleichermaßen vermittelte wie kontrollierte Einfühlungsgabe – als Einfühlung in Dinge, seien es Bilder, Texte oder Gegenstände, und als Einfühlung in Menschen, lebende wie längst verstorbene. Panofskys Englisch war an seinem amerikanischen Lieblingsautor Henry James geschult. Er kopierte ihn nicht, doch „aus der Gegenrichtung“ kommend – von seinen deutschen Lieblingsautoren Goethe, Jean Paul und Fontane –, nahm er sich die stilistische Eleganz jenes kultivierten Europareisenden zum Vorbild für die kulturelle und sprachliche Verschmelzung von kontinentaler Bildung mit angelsächsischem common sense. Und dieser birgt ein Stilpostulat, das nach Klarheit, Ergriffenheit, Sinnlichkeit und Anschaulichkeit verlangt.

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