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Il segreto della goccia di rugiada

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Caravaggios Mailänder „Früchtekorb“ aus der Zeit um 1595 gehört zu seinen bekanntesten Gemälden, gilt es doch als eines der ersten Stillleben der Kunstgeschichte überhaupt. Anders als diese für gewöhnlich ausfallen, entscheidet sich der Maler für eine ungewöhnliche Perspektive auf das Dargestellte. Er platziert den Korb auf Augenhöhe des Rezipienten. Wir können dessen Standfläche nicht überblicken und sehen lediglich einen schmalen dunklen Streifen, auf dem der Korb steht. Dieser reicht minimal in den Raum des Betrachters hinein. Über den Ort der Aufstellung erhalten wir jedoch keine weiteren Informationen.
Durch diese ungewohnte Perspektive werden uns die Früchte entzogen und zugleich nobilitiert, sind sie für unsere Hände doch nicht ohne weiteres erreichbar. Es ist, als sollten die Dinge selbst zu Wort kommen. Eine Quitte, ein Apfel, helle und dunkle Weintrauben, eine Birne, Feigen und ein Pfirsich, die am oberen Rand der Obstpyramide dargestellt wird. Die Oberflächen der Früchte reflektieren das Licht in höchst unterschiedlicher Weise. Sie glänzen oder schimmern, erscheinen weich oder hart. Den dunklen Weinblättern rechts kommt eine wichtige Funktion zu. Sie befinden sich parallel zur ästhetischen Grenze und betonen die Flächenhaftigkeit des Bildes.

Wir könnten das kleine Gemälde in die Hände nehmen und es aus nächster Nähe studieren, denn Höhe vor Breite misst es gerade einmal 37 x 41 cm. Ungeachtet des kleinen Formats beeindruckt die Monumentalität des Bildes. Sie verdankt sich weder der realen Größe, noch lässt sie sich mit dem Thema eines Früchtekorbs erklären. Der geflochtene Korb und auch die Früchte sind nichts Besonderes. Die rhetorische Grundfigur des Bildes ist der Lakonismus. Natürlich kann man nach der symbolischen Bedeutung einzelner Früchte suchen und den Apfel als Hinweis auf den Sündenfall hervorheben. Aber interessanter ist es, das kleine Bild unter dem Aspekt der Zeitlichkeit in den Blick zu nehmen. Alles Obst ist so detailliert beobachtet, dass es sich erkennbar in unterschiedlichen Reifegraden befindet und unterschiedliche Stadien der Fäulnis und des Verdorrens repräsentiert. Einige Weintrauben haben bereits eine dunklere Farbe angenommen. Wir sehen welke Blätter, erkennen, wie sie vom Rande her vertrocknen. Oder wir entdecken Fäulnisflecken auf dem Apfel. Die Reife des Obstes geht unmerklich in Auflösung über. Ganz so, als wäre der Fäulnisprozess in vollem Gange. Es ist Teil unserer Betrachter-Aufgabe, diesen Prozess weiterzudenken und zu antizipieren. Der mit der Reife verbundene Genuss der Früchte betrifft nur einen kurzen Zeitraum. Neben die Vergänglichkeit tritt das Carpe diem.
Zahlreiche Interpretationen des Bildes liegen vor. So wurde angesichts des ungeheuren Illusionismus an antike Künstleranekdoten erinnert, die das Motiv der Augentäuschung zum Thema machen. Man fühlte sich an vanitas-Darstellungen erinnert. Einen Anhaltspunkt für eine weiterführende Deutung liefert ein kurioses Detail: Auf dem Weinblatt rechts des Pfirsichs und zahlreichen anderen Blättern und Früchten werden Tautropfen sichtbar. Sie sind leicht zu übersehen, weil sie den Glanzlichtern auf den Früchten ähnlich sind.
An zahlreichen Stellen ist in der Bibel von Tautropfen die Rede. Im 11. Kapitel des Salomo zugeschriebenen „Buches der Weisheit“ werden Macht und Gnade Gottes beschworen, wenn es heißt: „Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt.“ (Weis 11, 22). Bei Jesaja wird vom „Tau des Lichts“ (Jes 26, 19) gesprochen, den Gott sendet. Am treffendsten für Caravaggios Darstellung des Früchtekorbs ist jener Passus aus dem Alten Testament, als Gott aus dem „Wettersturm“ auf den rechtenden Hiob antwortet, „Wo warst du, als ich die Erde gründete“ (Hi 38, 4), um in einem wahren Hymnus die Naturgewalten zu beschwören. Gott offenbart sich dem Kritiker Hiob als Urheber der Schöpfung, indem er deren gewaltige Erscheinungen und erhabene Schönheiten evoziert.
Das Buch Hiob ist ein anspruchsvoller Text. Anspruchsvoll ist er insofern, als der Hymnus ein respekteinflößendes Gedicht darstellt, das in der Bibel einzigartig ist. Wir erhalten einen exklusiven Rundgang durch die Schöpfung und steigen auf Berge, erkennen die Leistung der Elemente, erfahren von den Quellen des Meeres oder der Wohnstatt des Lichts. Ein ums andere Mal wird uns die menschliche Ohnmacht angesichts der Schöpfung vor Augen geführt. Gilt dies nicht auch für das Gemälde Caravaggios? Ist nicht jede Frucht ein größeres Wunder, als ein Künstler vollbringen könnte? Die Früchte wechseln von der Profanität in die Sakralität. Deswegen blicken wir nicht auf die Früchte herab, sondern zu ihnen hinauf.
Bei Caravaggios Früchtekorb haben wir es mit einem Reflexionsbild zu tun. Das Gemälde erzählt von der Schöpfung als unbegreiflichem Rätsel. Es zeigt elementare Sachverhalte. Dies ist ein Apfel, hier eine Quitte. Im Gemälde wird das So-Sein der Dinge im Sinne ihrer wechselnden Identität aufgeführt. Werden und Vergehen, Schönheit und Verfall. Und doch behält das Bild etwas Rätselhaftes. Rätselhaft ist das Problem der Unsichtbarkeit der Zeit. Sie erscheint zugleich als Zustand und als Transformation, als Sein und als Werden. Folgt man den klassischen Definitionen der Kunsttheorie, so ist es die vornehmste Aufgabe der Malerei zu verewigen. Im Bild kann die Zeit angehalten werden. Personen und Gegenstände überleben im Werk. Anders bei Caravaggio. Er beschleunigt die Zeit, als sollten die Früchte wie in einem Zeitraffer vor unseren Augen verfaulen und vertrocknen.

Es war dem Maler darum zu tun, uns das Problem der Zeit entdecken zu lassen. Nicht nur jene des Bildes, sondern unsere eigene mit der Zeit verbundene Identität. Nicht nur die reifen und vergehenden Früchte sind in der Zeit, sondern auch wir. Und ist es nicht unheimlich, wie wir von der Zeit beraubt werden? Augustinus hat das Wesen der Zeit als ein Werden ohne Sein definiert, als Gleichzeitigkeit von Beharren und Vergehen. Für den Kirchenvater ist das Rätsel der Zeit der Schöpfung selbst eingeschrieben, in der wir das Zukünftige als das bereits vor Gott Vergangene erkennen müssen.
Nimmt man den Früchtekorb in einem emphatischen Sinne als eine Allegorie der Schöpfung, so besticht das Bild durch seine verborgenen Anspielungen. Im Unscheinbaren verhüllt sich das Große. Die Tautropfen erweisen die Erhabenheit der göttlichen Schöpfung und erzählen von deren dramatischer Schönheit, die nicht im Sinne von Maß und Harmonie daherkommt, sondern geradezu den Schrecken der Schönheit beschwört. Der Tautropfen hat keine erkennbare Funktion, gleichwohl bricht sich in ihm das ansonsten unsichtbar bleibende Licht.
Unsere Betrachtung des Bildes hat sich als transformatorischer Akt herausgestellt, bei dem sich alle Selbstverständlichkeit auflöst. Das Gemälde führt uns bis an die Grenzen des Darstellbaren. Plato hat den Beginn allen Philosophierens als die Fähigkeit zu staunen beschrieben. Verdanken wir Caravaggio nicht in diesem Sinne ein philosophisches Werk? Wir erkennen, dass unser Erleben der Schönheit nicht ohne Vergänglichkeit zu haben ist. Wie das Licht im Tautropfen nur für einen Moment erfahrbar. Zeit und Schönheit fliehen. Niemand kann sie festhalten. Kein anderer hat das schöner zum Ausdruck gebracht als Horaz in seiner Ode an Leukonoe: „Neidisch entflieht, während du sprichst die Zeit;/Schenk dem kommenden Tag nimmer Vertrauen, koste den Augenblick!“

Jürgen Müller

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